Alles Glück kommt nie
Stammtischmeinungen zu beglücken.
Was, Balanda?
Ja, aber?
Lass gut sein ... Schevelí sádom.
*
Während das Wasser in die Badewanne lief, rief er im Büro an und gab Philippe, dem zuständigsten seiner Kollegen, eine Zusammenfassung des Tages. Sie hatten Mails an ihn weitergeleitet, die er sofort lesen musste, um Anweisungen zu erteilen. Er sollte auch in der Entwicklungsabteilung anrufen.
»Warum?«
»Tja, wegen der Sache mit dem Estrich ... Warum lachst du?«, so sorgte man sich in Paris.
»Sorry. Es sind nur die Nerven.«
Dann sprachen sie über weitere Baustellen, weitere Kostenvoranschläge, weitere Margen, weitere Scherereien, weitere Bestimmungen, weiteres firmeninternes Getratsche aus ihrer kleinen Welt, und bevor er auflegte, erzählte Philippe noch, dass Maresquin und seine Truppe Singapur gewonnen hätten.
Ach?
Er konnte nicht sagen, ob das eine gute oder eine schlechte Nachricht war.
Singapur, 10000 Kilometer und sieben Stunden Zeitunterschied ...
Und plötzlich, in dieser Sekunde, fiel ihm wieder ein, dass er extrem müde war, dass er seit – dass sein Schlafkonto seit Monaten, seit Jahren im Minus war und dass die Wanne überlaufen würde.
Zurück im Zimmer, suchte er nach Steckdosen, um seine verschiedenen Akkus aufzuladen, warf seine Jacke quer über das Bett, machte die oberen Hemdknöpfe auf, ging in die Hocke, verharrte einen Augenblick lang ratlos in der kalten Beleuchtung der Minibar, setzte sich dann neben seine Jacke.
Holte seinen Terminkalender heraus.
Gab vor, sich für seine Termine am nächsten Tag zu interessieren.
Gab vor, ihn durchzublättern, bevor er ihn wieder weglegte. Einfach so. Wie man an einem persönlichen Gegenstand herumspielt, wenn man weit weg ist von seinen Liebsten. Und dann – Überraschung ...
Stieß er auf die Nummer von Alexis Le Men.
So was aber auch ...
Sein Handy lag noch auf dem Nachttisch.
Er starrte es an.
Kaum hatte er die Vorwahl und die ersten Ziffern der Nummer eingetippt, als ihn sein Magen im Sti... Er klappte das Ding zu und stürzte zur Toilette.
Als er aufsah, überfiel ihn sein Spiegelbild.
Hose an den Knöcheln, weiße Waden, Knie in X-Stellung, Arme zwangsjackenmäßig verschränkt, verkrampftes Gesicht, kläglicher Blick.
Ein alter Mann ...
Er schloss die Augen.
Und leerte den Darm.
Sein Bad kam ihm lauwarm vor. Er fröstelte. Wen konnte er sonst anrufen? Sylvie. Die einzige Freundin, von der er wusste. Aber wie sollte er sie finden? Wie war noch gleich ihr Nachname? Brémand? Brémont? Und hatten sie noch Kontakt? Am Ende wenigstens? Würde sie ihm Auskunft geben können?
Und – wollte er es wirklich wissen?
Sie war tot.
Tot.
Er würde nie mehr ihre Stimme hören.
Nicht ihre Stimme.
Auch nicht ihr Lachen.
Auch nicht ihre Wutanfälle.
Würde nie mehr sehen, wie sich ihre Lippen zusammenzogen, zitterten oder zu einem unendlich breiten Lächeln dehnten. Er würde nie mehr ihre Hände sehen. Die Unterseite ihres Handgelenks, den Verlauf ihrer Venen, ihre Augenringe. Würde nie mehr wissen, was sie so gut, so schlecht hinter ihrem müden Lächeln oder ihren närrischen Grimassen versteckte. Würde sie nie mehr unauffällig beobachten. Nie mehr spontan am Arm packen. Nie mehr ...
Was würde es ihm bringen, wenn er das alles gegen eine Todesursache eintauschen könnte? Was würde er dabei gewinnen? Ein Datum? Details? Den Namen einer Krankheit? Ein widerspenstiges Fenster? Einen letzten Fauxpas?
Ehrlich gesagt ...
Wollte er wirklich Licht ins Dunkel bringen?
Charles Balanda zog sich was Frisches an und band seine Schuhe zu, wobei er mit den Backenzähnen knirschte.
Er wusste es. Dass er sich vor der Wahrheit fürchtete.
Und der Draufgänger in ihm legte ihm die Hand auf die Schulter und redete ihm gut zu: Komm, lass gut sein. Bewahr dir deine Erinnerungen. Behalte sie im Gedächtnis, wie du sie gekannt hast. Ruiniere sie nicht noch mehr. Das ist die größte Ehre, die du ihr erweisen kannst, das weißt du genau. Sie aufdiese Weise in Erinnerung zu behalten. Durch und durch lebendig.
Doch der Feigling packte ihn im Nacken und flüsterte ihm ins Ohr: Und außerdem ist dir doch klar, dass sie gegangen ist, wie sie gelebt hat?
Allein. Allein und unkonventionell.
Sie kam nicht mehr mit in dieser Welt, die viel zu klein für sie war. Was sie umgebracht hat? Das ist nicht schwer zu erraten. Ihre Aschenbecher. Oder die vielen Gläser, die ihr längst nicht mehr halfen. Oder das Bett,
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