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Alles Glück kommt nie

Titel: Alles Glück kommt nie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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ansonsten dornenreichen Leben, und die einzige Vergangenheit, die einzige Schulter, die einzigen Finger, die sie während des Orgelgedudels quetschen konnte, waren die von Orlanda Marshalls früherer Freundin mit ihren Lackstiefeletten und den Rosenkränzen um den Hals über dem blassvioletten Anzug.
    Das war nichts.
    Und doch war es viel.
    Und doch wieder nichts.
     
    Es war ihr Leben.
     
    Er hatte ihm einen Stift geschenkt, der »bitte schön, Monsieur Charles Trenet« gehört hat, dessen Verschlusskappe aber nicht abging.
    »Und? Macht dein Herz denn nicht bum bum?«, hatte er hinzugefügt, als er Charles’ verlegenes Lächeln bemerkte. »Äh, doch.«
    Und als der Kleine weg war, fühlte er sich Anouks Schmollmund gegenüber zur Rechenschaft verpflichtet: »Was siehst du mich so an?«
    »Ich weiß nicht. Das letzte Mal hast du behauptet, der verdammte Stift hätte Tino Rossi gehört.«
    »Ach, Schätzchen ...«
    Totale Erschöpfung des Alpakaträgers.
    »Der Traum zählt, das weißt du doch. Und außerdem, ich finde, dass Charles Trenet bei einer Kommunion eher – besser passt.«
    »Du hast recht. Tino Rossi klingt mehr nach Weihnachten.«
    »Haha. Wie witzig.«
    Sie brach in Gelächter aus, er machte ein säuerliches Gesicht.
    »Ach, mein lieber Nounou. Was wäre ich ohne dich.« Und sein Make-up färbte sich rot.
     
    Charles legte die Fotos auf den Klapptisch vor sich. Er hätte gern noch weiter geschaut, aber schon riss der alte Gaukler wie immer alles an sich. Und man konnte ihm nicht böse sein. Es war seine Existenzberechtigung, die Bühne, das Spektakel, das Äntertänment, wie er sagte.
     
    Dann wollen wir mal, dachte er, wollen wir mal. Nach den Hündchen mit dem abnehmbaren Kragen und bevor das Licht wieder angeht, Ladies and Gentlemen, exklusiv für Sie heute Abend, live von seiner triumphalen Tournee in die Neue Welt und vor Ihren verblüfften Augen, haben wir hier den großen, den herrlichen, den außergewöhnlichen, den unvergesslichen ... Nounou.
     
    *
     
    Eines Nachts im Januar 1966 (wenn sie ihm diese Geschichte Jahre später erzählt, wird Anouk, die sich nie an etwas erinnert, dies als Anhaltspunkt nehmen: Am Tag zuvor war am Montblanc eine Boeing zerschellt) starb eine ältere Frau in der Kardiologie. Das heißt – drei Stockwerke über ihr. Das heißt – Lichtjahre von der staatlich geprüften Krankenschwester Le Men entfernt, die damals auf der Schockstation arbeitete. Charles wählte den Begriff absichtlich, weil sie die Abteilung so nannte, gemeint ist aber: in der Notaufnahme. Anouk war, was bestens zu ihr passte, Notfallkrankenschwester .
    Ja, eine alte Frau war gestorben, und warum sollte sie etwas davon mitkriegen, ist doch nichts so hermetisch abgeriegelt wie ein Krankenhaus. Jeder Abteilung ihre kleinen Feiern, ihre Siege, ihre Problemchen ...
    Dabei waren die Buschtrommeln nicht berücksichtigt. Die auch ohne Busch auskamen. An ebendiesem Tag hatte sich eine ihrer Kolleginnen über einen komischen Kauz beschwert, der ihnen da oben mächtig auf den Geist ging, weil er die Verstorbene weiterhin jeden Tag mit frischen Blumen besuchte und sich wunderte, dass er inzwischen abgewiesen wurde. Sie lachte darüber und fragte in den Raum hinein, ob ihr jemand eine Überweisung in die Psychiatrie ausstellen könne.
    Im ersten Moment hatte Anouk nicht weiter reagiert. Ihr Herz und ihr Plastikbecher waren gleichermaßen zerknautscht, bevor sie in den Mülleimer flogen. Sie war fertig mit der Welt.
    Erst als der Sicherheitsdienst eingeschaltet wurde und ihm der Zutritt zu den Stockwerken verwehrt wurde, trat besagter komischer Kauz in ihr Leben. Wann immer sie tagsüber oder nachts ihren Dienst begann oder beendete, traf sie ihn in der Eingangshalle zwischen den Grünpflanzen und dem Kabuff der Buchhaltung an. Bedrückt, duldsam, dem Luftzug und den Wellenbewegungen der Menge ausgesetzt, die sich in Abhängigkeit der freien Sitze umverteilte, das Gesicht stets auf die Fahrstuhltüren gerichtet.
    Auch da wandte sie sich noch ab. Ihr Schicksal, ihr Schmerz, ihre eingeklemmten Unfallopfer, ihre verbrühten Säuglinge, ihre kotzenden Trinker, ihre lahmen Feuerwehrleute, ihr Ärger mit dem Babysitter, ihre Geldsorgen, ihre Einsamkeit, ihr ... Sie schaute weg.
     
    Und dann eines Abends, warum auch immer, vielleicht weil Sonntag war und der Sonntag der ungerechteste Tag der Welt ist, weil ihre Schicht zu Ende war, weil Alexis bei den freundlichen Nachbarn Zuflucht gefunden hatte, weil sie zu

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