Alles Glück kommt nie
Wohnung nicht besonders schön ist, aber doch ein bisschen gemütlicher als das hier und –«
»Und dann?«
»Nichts und dann. Als er nicht reagiert hat, habe ich mich gefragt, ob er vielleicht taub ist. Keine Ahnung. Ein bisschen minderbemittelt, verstehst du?«
»Und dann?«
»Es kam mir so lang vor, mein Gott! Fast geschlossene Abteilung, von der Stimmung her! Und ich steckte uns beide in eine Schublade, was? Zwei Verrückte unter Yuccapalmen. Mensch, wenn ich daran zurückdenke, ich muss echt verzweifelt gewesen sein. Ich war auf ihn zugegangen in der Absicht, ihm meine Hilfe anzubieten, und jetzt saß ich da und flehte ihn an, mich zu retten. Schrecklich war das, mein lieber Charles, schrecklich.«
»Erzähl weiter.«
»Aber irgendwann bin ich trotzdem aufgestanden! Und er mit. Ich bin zu meinem Bus gegangen, und er ist mir gefolgt. Ich habe mich hingesetzt, er setzte sich mir gegenüber. Ich bin fast ausgeflippt.«
Sie lachte.
»Scheiße, ich dachte nur, hier läuft was schief. Ich hatte ihn eingeladen, mitzukommen, aber doch nicht sofort. Und auch nicht für immer. Hilfe! Ich habe zwar gute Miene zum bösen Spiel gemacht, aber ich kann dir sagen, ich hatte mächtig Bammel. Ich sah mich schon mit ihm zu den Bullen gehen. Guten Tag, Herr Wachtmeister, hier bringe ich Ihnen ein armes Waisenkind, das mich für seine Mutter hält und mir überallhin folgt. Was – was soll ich machen? Ich konnte ihn plötzlich nicht mehr ansehen, habe mich nicht getraut, sondern mich ganz klein gemacht und in meinen Schal gewickelt. Er aber hat michdie ganze Zeit über angestarrt. Super. Und dann hat er plötzlich gesagt: ›Ihre Hand ...‹ ›Pardon?‹ ›Geben Sie mir Ihre Hand. Nein, nicht die, die linke ... ‹«
»Was wollte er?«
»Keine Ahnung. Vielleicht wollte er sich meine Handlinien ansehen. Sich vergewissern, dass ich die Wahrheit sage. Er hat mir also aus der Hand gelesen und gesagt: ›Wie heißt der Kleine?‹ ›Alexis.‹ ›Ach?‹ Pause. ›Wie Swerdjàk.‹ Und als ich nicht reagiert habe: ›Alexéi Swerdjàk. Der größte Messerwerfer aller Zeiten.‹ In dem Moment, das kannst du mir glauben, habe ich nur gedacht, jetzt habe ich schon wieder Mist gebaut. Er sah aus, als wäre er total plemplem, mit seinem Omischal um den Kopf. Ja, in dem Moment habe ich mir Vorwürfe gemacht. Du legst es aber auch regelrecht drauf an, habe ich mich gescholten und auf meine Fingernägel gestarrt. Scheiße, es ist dein Kind! Was für eine ausgetickte Mary Poppins hast du da bloß aufgegabelt?!«
»War er geschminkt und so?«
»Nein, viel undefinierbarer. Ein uraltes Baby. Mit seinen Besenreisern im Gesicht, seinen Medusenaugen, seinen samtigweichen Handschuhen und seinem nicht ganz sauberen Hemdkragen. Schrecklich, sage ich dir.«
»Und dann?«
»Dann habe ich mich von ihm verabschiedet. Ich habe ihm gesagt, dass es mir leid tut, dass ich ihn mit meinen Geschichten belästigt habe und dass er jederzeit vorbeikommen kann. Dass er immer willkommen ist und mein Kleiner sich bestimmt freuen wird, wenn er ihm von Biduljak erzählt, dass er aber auf keinen Fall, auf gar keinen Fall wieder ins Krankenhaus zurückkehren darf. Versprochen?«
»Ich habe ihn stehenlassen und nach meinem Schlüssel gesucht, da hörte ich ihn sagen: ›Weißt du, Schätzchen, ich bin auch einmal ein Künstler gewesen.‹ Und wie ich mir das vorstellen konnte! Ich habe mich umgedreht, um ihm ein letztes Mal tschüss zu sagen.
›In der Music-Hall.‹
›Ach?‹
Und in dem Moment, mein lieber Charles, in dem Moment ... Versuch, dir die Szene vorzustellen. Die Nacht, sein Schatten, seine seltsame Stimme, die Kälte, die Mülleimer und alles. Ehrlich gesagt, ich habe mich ziemlich geschämt. Ich sah mich schon am nächsten Tag in der Zeitung, unter ›Vermischtes‹.
›Glaubst du mir nicht?‹, hat er weitergefragt. ›Schau her ...‹ Er hat seine Hand in den Ausschnitt seines Mäntelchens geschoben, und weißt du, was er herausgeholt hat?«
»Ein Foto?«
»Nein. Eine Taube.«
»Sagenhaft.«
»Genau. Er hat uns ja einige Shows hingelegt, nicht? Aber die hier wird für mich immer die schönste bleiben. Es war so verrückt, so altmodisch und doch auch so poetisch. Das war Nounou. Du hättest sein Gesicht sehen sollen. Wie er gestrahlt hat. Und in dem Moment hat sich in meinem Gesicht ein Lächeln ausgebreitet, das ich nicht mehr abstellen konnte. Ich habe meinen Kaffee getrunken, mir die Zähne geputzt und bin mit – bin ins Bett
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