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Alles Glück kommt nie

Titel: Alles Glück kommt nie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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erschöpft war, um ihre Müdigkeit noch zu spüren, weil es kalt war, weil ihr Auto kaputt war und allein schon der Gedanke, bis zur Bushaltestelle gehen zu müssen, ihr die Luft abschnürte und weil er irgendwann krepieren würde, wenn er weiterhin reglos dortsitzen blieb, hatte sie, anstatt durch den Personalausgang zu verschwinden, ihre Lichtreise wieder aufgenommen und sich, anstatt die Augen niederzuschlagen, neben ihn gesetzt.
     
    Sie war lange Zeit schweigend sitzen geblieben und hatte sich das Gehirn zermartert, wie sie ihn dazu bewegen könnte, seinen Strauß loszulassen, ohne dass er in tausend Stücke zerfiel, aber sie hatte keine Idee, bis sie sich mit schmerzendem Nacken schließlich eingestehen musste, dass es ihr selbst viel zu dreckig ging, um wem auch immer zu helfen.
    »Und dann?«, fragte Charles.
    »Äh, dann habe ich ihn gefragt, ob er Feuer hat.«
    Er amüsierte sich köstlich: »He! Ganz schön originell als Einstieg!«
    Anouk lächelte. Sie hatte diese Geschichte noch nie erzählt und war erstaunt, wie gut sie sich daran erinnerte, wo sie sonst schnell mal vergaß, wie sie hieß.
    »Und dann? Hast du ihn gefragt, ob ihm diese schönen Augen gehören?«
    »Nein. Dann bin ich rausgegangen, um mir mit ein paar Zügen an der Zigarette Mut zu machen, und als ich wieder reinkam, habe ich ihm die Wahrheit erzählt. Ich habe ihm Dinge erzählt, die ich vorher noch keinem Menschen anvertraut hatte. Keinem. Der Arme. Wenn ich daran zurückdenke –«
    »Was hast du denn zu ihm gesagt?«
    »Dass ich wüsste, warum er da ist. Dass ich mich erkundigt hätte und man mir erzählt hätte, dass seine Mama sanft entschlafen sei. Dass ich mir wünschte, ebenso einschlafen zu dürfen. Dass sie großes Glück gehabt habe, dass er bei ihr war. Dass ich von einer meiner Kolleginnen wüsste, dass er jeden Tag gekommen sei und ihr bis zum Ende die Hand gehalten habe. Dass ich sie beneide, alle beide. Dass ich meine Mutter seit Jahren nicht mehr gesehen habe. Dass ich einen Jungen von sechs Jahren hatte, den sie noch nie in die Arme geschlossen hat. Dass ich ihr eine Geburtsanzeige geschickt hatte undsie mir zur Geburt ein Mädchenkleid hatte zukommen lassen. Dass es vermutlich nicht einmal Bosheit war, was die Sache noch schlimmer machte. Dass ich den größten Teil meines Lebens damit verbrachte, den Leuten Erleichterung zu verschaffen, dass sich aber nie jemand um mich kümmerte. Dass ich jetzt müde bin, dass ich Schlafstörungen habe, dass ich allein lebe und manchmal trinke, abends, um einzuschlafen, weil es mir fürchterliche Angst macht zu wissen, dass ein Kind, dessen Leben von meinem abhängt, im Nebenzimmer schläft. Dass ich von seinem Vater nie wieder gehört habe, einem Mann, von dem ich trotzdem noch träume. Dass ich ihn um Verzeihung bitten wollte, das alles habe ich ihm erzählt. Dass auch er seine Sorgen hat, es für ihn aber keinen Grund mehr gibt, hierher zurückzukehren, denn er hat sie bestimmt beerdigt, oder? Dass man sich nicht an einem solchen Ort aufhalten soll, wenn man nicht krank ist, weil es fast eine Kränkung gegenüber denjenigen ist, die leiden müssen, dass sein Kommen aber wohl bedeutet, dass er Zeit hat, und falls dies der Fall ist, äh, ob er dann nicht lieber zu mir nach Hause kommen will?
    Dass ich, bevor ich hierhergekommen bin, in einem anderen Krankenhaus gearbeitet habe und damals bei Freunden wohnte, die sich um meinen Jungen kümmern konnten, dass ich aber seit zwei Jahren allein lebe und mein ganzes Geld für Tagesmütter ausgebe. Dass ich, weil der Junge vom nächsten Schuljahr an lesen lernen soll, meine Arbeitszeit umgestellt habe und anstrengendere Schichten schiebe, um zu Hause zu sein, wenn er von der Schule kommt. Dass er ein kleiner Knirps ist, jeden Morgen aber von allein aufsteht und ich mir immer Sorgen machte, ob er auch frühstückt und ... Dass ich das alles noch keiner Menschenseele erzählt habe, weil ich mich zu sehr schäme. Er ist noch so klein. Ja. Ich schäme mich. Dass ich ab dem nächsten Monat tagsüber arbeiten werde. Dass die Stationsschwester mir keine andere Wahl lässt und dass ich noch nicht gewagt habe, es ihr zu sagen. Dass die Tagesmütter nicht die Zeit haben, die Hausaufgaben der Kinderzu kontrollieren oder mit ihnen Lesen zu üben, jedenfalls nicht die Tagesmütter, die ich mir leisten kann, und dass, ja, dass ich ihn natürlich bezahlen würde! Dass mein Junge ein liebes Kind ist, daran gewöhnt, allein zu spielen, und dass meine

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