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Alles Glück kommt nie

Titel: Alles Glück kommt nie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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und sorgten dafür, dass ihre Visiten nach Anouks Schichtplan ausgerichtet wurden. Natürlich hörten sie auch auf die Kranken, aber wenn Anouk etwas sagte, das kannst du mir glauben, dann stieß es nicht auf taube Ohren. Ich habe immer gedacht, dass sie, wenn sie eine andere Kindheit gehabt hätte, wenn sie hätte studieren können, eine unserer großen Ärztinnen geworden wäre. Eine von denen, die ihrer Abteilung Ehre machen und niemals den Namen, den Vornamen, das Gesicht und die Ängste ihrer Fälle aus dem Blick verlieren.«
    Seufzer.
    »Sie war wunderbar, und weil sie selbst kein Leben mehr hatte, gab sie den anderen so viel, denke ich. Sie kümmerte sich nicht nur um die Patienten, sondern auch um ihre Familien. Und um die Jüngeren, die kleinen Schwesternhelferinnen, die manche Zimmer am liebsten rückwärts betreten hätten und sich schwer damit taten, den Kranken eine Bettpfanne unterzuschieben. Sie berührte die Leute, nahm sie indie Arme, streichelte sie, kam nach der Schicht noch mal vorbei, ohne Kittel und ein bisschen geschminkt, um den Besuch zu ersetzen, den sie nicht oder nicht mehr bekamen. Sie erzählte ihnen Geschichten, erzählte viel von dir, kann ich mich erinnern. Behauptete, du wärst der intelligenteste Junge der Welt. Sie war so stolz. Es war in der Zeit, als ihr hin und wieder noch zusammen essen wart, und ein Essen mit dir war heilig, o ja! Da gab es bei den Terminen kein Pardon, da konnte das ganze Krankenhaus einstürzen! Und erzählte von Alexis, von seiner Musik. Sie dachte sich alles Mögliche aus, Konzerte, stehende Ovationen, sagenhafte Verträge. Vor allem abends, wenn alle vor Müdigkeit fast umfielen, hörte man ihre Stimme in den Korridoren. Ihre Lügen, ihre Phantasien. Sie wiegte sich selbst in Illusionen, das war allen klar. Und dann eines Morgens traf sie der Anruf eines Sanitäters wie eine Ohrfeige ins Gesicht: Ihr angeblicher Virtuose war kurz davor, an einer Überdosis zu verrecken.
    Von dem Moment an ging es bergab. Erstens hatte sie überhaupt nicht damit gerechnet. Was mich nach wie vor wundert. Die alte Geschichte vom Schuster mit den schlechtesten Stiefeln. Sie ging davon aus, dass er von Zeit zu Zeit einen Joint rauchte, weil er dann ›besser spielte‹. Von wegen. Und sie, diese Frau, die professionellste von allen, mit denen ich je zusammengearbeitet habe, ich habe jetzt nur von ihrer verständnisvollen Seite gesprochen, aber sie konnte auch streng sein, hielt alle auf Distanz: den Sensenmann, die permanent überlasteten Ärzte, die überheblichen Assistenten, die eingebildeten Kollegen, die hundertfünfzigprozentigen Beamten, die aufdringlichen Familien, die liebenswürdigen Kranken. Niemand, hörst du? Niemand konnte ihr widerstehen. Die Leute nannten sie Super-Le-Men. Es war diese Mischung aus Freundlichkeit und Professionalität, die so überraschend war, so außergewöhnlich und die Respekt einflößte. Moment, jetzt habe ich den Faden verloren –«
    »Der Sanitäter –«»Ach ja. Genau. In dem Moment hat sie die Panik gekriegt. Ich glaube, sie war traumatisiert, im medizinischen Sinne traumatisiert, ›Schädigung oder Verletzung körperlicher Strukturen oder Funktionen‹ aufgrund der ersten Jahre mit Aids. Ich glaube, davon hat sie sich nie wieder erholt. Und zu wissen, dass die Chancen bei ihrem Sohn, nein, das ist nicht das richtige Wort, dass die Wahrscheinlichkeit groß war, dass er wie all die anderen armen Geschöpfe enden würde, das hat sie ... Ich weiß nicht. Das hat sie zerbrochen. Zack. Wie ein Stück Holz. Von da an wurde es schwieriger für sie, ihre Alkoholprobleme zu verbergen. Sie war noch dieselbe, und doch war sie eine andere. Ein Gespenst. Ein Automat. Eine lächelnde Maschine, die Verbände anlegte und Befehle erteilte. Ein Name und eine Personalnummer auf einem Kittel, der nach Alkohol roch. Zuerst hat sie ihre Haube als Stationsschwester zurückgegeben, angeblich weil sie die Schnauze voll hatte, sich mit dem albernen Papierkram herumzuschlagen, dann wollte sie auf Teilzeit reduzieren, um sich um Alexis kümmern zu können. Sie hat sich krummgelegt, um ihn da rauszuholen und in bessere Einrichtungen zu stecken. Das war ihr neuer Lebensinhalt, und in gewisser Weise hat es auch ihr Leben gerettet. Sagen wir, es war eine schöne Gipsschiene. Eine Atempause von kurzer Dauer, weil ...«
    Sie hatte ihre Brille hochgeschoben, presste lange ihre Nasenwurzel mit Daumen und Zeigefinger zusammen und wiederholte: »Weil dieser – dieser

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