Alles Glück kommt nie
verstanden, was sie faselte. Ich habe nur kapiert, dass sie getrunken hatte. Am nächsten Morgen habe ich sie besucht.
Er hatte ihr einen Brief geschrieben, den sie nicht verstand. Ich sollte ihn lesen, ich, und ihr erklären, was er damit sagen wollte. Was er meinte!! Wollte er sie nie mehr sehen? Sie war – am Boden zerstört. Also habe ich diesen ...«
Sie schüttelte den Kopf.
»... diesen Mist gelesen, der vor hochtrabendem Psychologengeschwafel nur so triefte. Er klang elegant und war in wunderschöne Formulierungen verpackt. Er sollte würdevoll, großzügig klingen, war aber nur – der Inbegriff der Feigheit.
Und? Und?, bettelte sie, was soll das heißen, was meinst du? Wie soll ich das verstehen?
Was sollte ich ihr sagen? Du bist abgemeldet. Sieh nur. Du existierst schon gar nicht mehr. Er verachtet dich dermaßen, dass er sich nicht einmal um Klarheit bemüht. Nein. Das konnte ich nicht. Ich habe sie stattdessen in den Arm genommen, und da hat sie natürlich verstanden.
Weißt du, Charles, eine Sache, die ich oft erlebt habe, verstehe ich noch heute nicht. Warum Menschen, die bei der Arbeit so überragend sind, Menschen, die auf Erden objektiv Gutes tun, sich im wirklichen Leben als vollkommen unfähig erweisen. Was? Wie kann das sein? Wo bleibt ihre menschliche Seite?
Ich bin also den ganzen Tag bei ihr geblieben. Ich hatte Angst, sie allein zu lassen. Ich war davon überzeugt, dass sie sich bestenfalls mit Alkohol zudröhnen würde, schlimmstenfalls aber ... Ich habe sie angefleht, einige Zeit bei uns zu wohnen, das Kinderzimmer stand leer, wir würden sie in Ruhe lassen. Sie hat sich gründlich geschneuzt, die Haare wieder zusammengebunden, hat sich über die Lider gestrichen, den Kopf gehoben und mich angelächelt. Ein mutloses Lächeln, wie ich es noch nie gesehen hatte.
Dabei hatte sie weiß Gott ... Na ja. Schweigen wir zu dem Thema. Sie hat versucht, ihr Lächeln so lange wie möglich auszudehnen, diese Angeberin, und auf dem Weg zur Tür hat sie versichert, dass ich beruhigt gehen könne, dass sie mir das nicht antun würde, dass sie schon Schlimmeres überlebt habe und dass ihr Fell inzwischen notgedrungen reichlich dick sei.
Ich habe nachgegeben unter der Bedingung, sie jederzeit tagsüber oder nachts anrufen zu dürfen. Sie hat gelacht. Sich einverstanden erklärt. Hinzugefügt, dass es auf eine Nervensäge mehr oder weniger nicht ankomme. Und sie hat Wort gehalten, keinen Tropfen mehr angerührt. Ich konnte es nicht fassen. Ich habe sie damals öfter gesehen und konnte noch so sehr nach Anzeichen suchen, mir das Weiß ihrer Augäpfel anschauen, an ihrem Mantel schnuppern, wenn ich ihn an den Haken hängte – nichts. Sie war trocken.«
Stille.
»Mit dem heutigen Abstand sage ich mir, dass mich das im Gegenteil hätte stutzig machen müssen. Es ist schrecklich, was ich dir jetzt sage, aber im Grunde war es so: Solange sie trank, war sie lebendig und irgendwie – keine Ahnung – reaktiviert . Na ja, heute gehen mir so viele Dinge durch den Kopf. Und dann irgendwann hat sie mir eröffnet, dass sie kündigen wolle. Ich bin aus allen Wolken gefallen. Das weiß ich noch genau, wir kamen aus einem Café und liefen an den Tuilerien entlang. Das Wetter war schön, wir hatten uns untergehakt, und in dem Moment hat sie mir verkündet: Es ist vorbei. Ich höre auf.
Ich bin langsamer gegangen und habe lange geschwiegen in der Hoffnung, dass noch etwas folgen würde: Ich höre auf, weil, oder ich höre auf, damit – aber nichts dergleichen kam. Warum, Anouk, warum?, habe ich irgendwann gestammelt, du bist erst fünfundfünfzig. Wie willst du leben? Wovon willst du leben? Ich dachte vor allem: Für wen oder für was willst du leben? Aber ich habe mich nicht getraut, es ihr gegenüber so zu formulieren. Sie hat nicht geantwortet. Gut.
Und dann nur gemurmelt: ›Alle, alle haben mich im Stich gelassen. Einer nach dem anderen. Nur das Krankenhaus nicht, hörst du? Da muss ich diejenige sein, die geht, sonst weiß ich, dass ich es nicht verkraften werde. Damit mich wenigstens einer in diesem beschissenen Leben nicht fallenlässt. Kannst du dir vorstellen, wie ich aussehe, wenn ich meinen Ausstand gebe?‹, kicherte sie. ›Ich nehme mein Geschenk, umarme sie alle und dann? Wohin soll ich dann gehen? Was soll ich dann machen? Wann werde ich sterben?‹ Ich wusste keine Antwort, aber es war nicht weiter schlimm, sie kletterte schon in einen Bus und winkte zum Abschied durchs Fenster.«
Sie
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