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Alles Glück kommt nie

Titel: Alles Glück kommt nie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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einzige Moment, in dem ihre Augen aufleuchteten, war, als ich ihr anbot, mit ihr zu Nounous Grab zu fahren, wo sie nie mehr gewesen war. Au ja! Das ist eine gute Idee!, stammelte sie. Erinnerst du dich an ihn? Weißt du noch, wie lieb er war? Weißt du ... Dicke Tränen ertränkten alles.
    Ihre Hand war eiskalt. Als ich sie in meine nahm, wurde mir plötzlich klar, dass dieser ältere Herr, der ihr Vater hätte sein können und der die Frauen nicht liebte, ihre einzige Liebesgeschichte war ...
    Sie bestand darauf, dass ich ihr von ihm erzählte. Dass ich ihr meine Erinnerungen erzählte, immer wieder, auch Geschichten, die sie in- und auswendig kannte. Ich zwang mich ein wenig, aber ich hatte am Nachmittag einen wichtigen Termin und musste mir fast den Arm verrenken, um meine Uhr im Blick zu behalten, ohne dass es auffiel. Und dann hatte ich keine Lust mehr, mich zu erinnern. Jedenfalls nicht mit ihr zusammen. Beim Blick in dieses verlebte Gesicht, das alles zerstörte ...«
    Stille.
    »Ich habe sie nicht gefragt, ob sie einen Nachtisch wollte. Warum auch? Sie hatte ihr Essen nicht angerührt. Ich habe zwei Espresso bestellt und den Kellner noch einmal gerufen, ihm ein Zeichen gegeben, dass er die Rechnung gleich mitbringen sollte, dann habe ich sie zur Metro begleitet und ...«
     
    Sylvie schien zu spüren, dass der Moment gekommen war, ihm ein wenig unter die Arme zu greifen: »Und?«
    »Ich bin nie mit ihr in die Normandie gefahren. Ich habe sie nie mehr angerufen. Aus Feigheit. Um nicht zusehen zu müssen, wie sie sich zugrunde richtete, um sie im Museum meiner Erinnerungen zu behalten, damit sie mir kein schlechtes Gewissen machte. Weil alles zu viel war. Ein schlechtes Gewissen, das mich aber doch einholte und von dem ich mich jedes Jahr zur Zeit der Glückwunschkarten ein wenig befreite. VorgedruckteGlückwunschkarten natürlich. Unpersönliche, kommerzielle, nichtssagende, denen ich als der große Herr, der ich war, ein oder zwei handschriftliche Zeilen hinzufügte und die ich mit einem ›Gruß und Kuss‹ abstempelte. Ich habe sie danach noch zwei- oder dreimal angerufen, vor allem, soweit ich mich erinnere, weil meine Nichte ich weiß nicht mehr was für ein Medikament geschluckt hatte. Und dann irgendwann haben mir meine Eltern, die sie schon lange nicht mehr gesehen hatten, erzählt, dass sie fortgezogen sei, ich glaube, in die Bretagne –«
    »Nein.«
    »Wie bitte?«
    »Sie war nicht in der Bretagne.«
    »Ach so?«
    »Sie war nicht weit von hier.«
    »Wo denn?«
    »In einer Siedlung gleich hinter Bobigny.«
    Charles schloss die Augen.
     
    »Aber wie?«, flüsterte er, »ich meine, warum? Darin war sie sich ganz sicher, soweit ich mich erinnere, das hatte sie sich geschworen. Niemals ... Wie ist das möglich? Was ist passiert?«
    Sie hob den Kopf, sah ihm in die Augen, ließ den Arm über den Sessel gleiten und zog den Stöpsel: »Anfang der Neunziger. Gut, okay ... Ich bin nicht so gut in Jahreszahlen. Du warst vermutlich der Letzte, mit dem sie damals essen war. Wo fange ich an? Ich bin mir nicht sicher. Ich denke, ich fange mit Alexis an. Mit ihm hat das ganze Elend begonnen. Sie hatte seit Jahren fast nichts mehr von ihm gehört. Ich meine mich zu erinnern, dass du einer ihrer wenigen Kontakte warst, oder?«
    Charles nickte.
    »Es war hart für sie. Darum hat sie unglaublich viel gearbeitet, Wochenenddienste übernommen und Überstunden angehäuft, keinen Urlaub gemacht und nur für das Krankenhaus gelebt. Ich denke, dass sie damals schon ziemlich viel trank,aber egal. Das hat sie nicht daran gehindert, zur Stationsschwester aufzusteigen und sich die härtesten Schichten aufzuhalsen. Nach der Immunologie kam sie in die Neurologie, und ich bin ihr gefolgt. Ich habe gern mit ihr zusammengearbeitet. Als Stationsschwester war sie eigentlich eher ungeeignet. Betreute lieber Patienten, als Arbeitspläne aufzustellen. Untersagte den Kranken zu sterben, wie ich mich erinnere. Schrie sie an, brachte sie zum Heulen, brachte sie zum Lachen. Mit unerlaubten Methoden.«
    Ein Lächeln.
    »Aber sie war unantastbar, denn sie war die Beste. Was ihr an medizinischem Fachwissen fehlte, machte sie mit ihrer extremen Aufmerksamkeit gegenüber Menschen wett.
    Nicht nur, dass sie immer die Erste war, der auch die geringsten Veränderungen auffielen, die leichtesten Symptome, sie hatte darüber hinaus einen unglaublichen Instinkt. Ein Gespür. Du kannst es dir nicht vorstellen. Die Ärzte hatten das sehr wohl begriffen

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