Alles Glück kommt nie
erledigt.«
Legte eine Münze auf den Tresen und ging.
*
Sie war ebenso ergriffen wie er, wusste nicht, wohin mit ihren Händen, führte ihn in ein makellos sauberes Zimmer, entschuldigte sich für die Unordnung und bot ihm etwas zu trinken an.
»Haben Sie eine Cola?«
»Oh, ich habe an alles gedacht, aber damit habe ich nicht gerechnet. Warten Sie ...«
Sie ging wieder in den Flur und öffnete einen Schrank, der nach alten Turnschuhen roch. »Sie haben Glück. Ich glaube, die Kleinen haben nicht alles getrunken.«
Charles traute sich nicht, nach Eiswürfeln zu fragen, kippte seine lauwarme Arznei hinunter und fragte sie in leutseligem Ton, wie viele Enkel sie habe.
Hörte sich die Antwort an, bekam die Zahl nicht mit, versicherte ihr, das sei fabelhaft.
Er hätte sie nicht erkannt, wenn er ihr auf der Straße begegnet wäre. Er erinnerte sich an eine brünette, eher rundliche und immerzu fröhliche kleine Frau. Er erinnerte sich an ihren Po, großes Gesprächsthema damals, und auch daran, dass sie ihnen Le Bal des Laze in 45 Umdrehungen geschenkt hatte. Ein Lied, auf das Anouk total versessen war und das die Jungs irgendwann hassten.
»Still jetzt, still jetzt. Hört doch mal, wie schön das ist.«
»Verdammt, haben Sie den Typ noch nicht gehängt!!? Das ist ja unerträglich, Mama, unerträglich.«
Was für eine eigenartige Schublade das Gedächtnis doch ist. Die besungene Jane, Anouk, ihr Verlobter. Alles fiel ihm auf einen Schlag wieder ein.
Heute hatten ihre Haare eine seltsame Farbe, sie trug eine Brille mit aufwendig verzierten Bügeln und kam ihm stark geschminkt vor. Ihr Make-up endete in einer scharfen Linie unterhalb des Kinns, und ihre Brauen waren mit einem Stift nachgezogen. Ihm ging es im Augenblick zu beschissen, als dass es ihm aufgefallen wäre, aber als er später an diesen Vormittag zurückdachte, und er dachte weiß Gott oft daran zurück, wurde es ihm klar. Eine lebendige, kokette Frau, die Besuch von einem Mann erwartet, den sie seit über dreißig Jahren nicht gesehen hat, kann nicht darauf verzichten. Wirklich nicht.
Er nahm auf einem Ledersofa Platz, das glatt wie ein Wachstuch war, und stellte sein Glas auf den dafür vorgesehenen Untersetzer zwischen einem Sudoku-Heft und einer riesigen Fernbedienung.
Sie sahen sich an. Lächelten sich zu. Charles suchte in all seiner Höflichkeit nach einem Kompliment, einem liebenswürdigen Kommentar, einer harmlosen Bemerkung, um die Last von all diesen Zierdeckchen zu nehmen, aber es ging nicht. Es war zu viel verlangt.
Sie senkte den Kopf, drehte ihre Ringe an den Fingern und fragte: »Du bist also Architekt?«
Er richtete sich auf, öffnete den Mund und wollte antworten, dass ... Dann gab er es auf: »Erzählen Sie mir, was passiert ist.«
Sie wirkte erleichtert. Es war ihr vollkommen egal, ob er Architekt oder Metzger war, sie konnte das, was folgen musste, einfach nicht länger für sich behalten. Das war übrigens auch der Grund, warum sie bei dieser Schnepfe von Assistentin so insistiert hatte ... Jemanden wiedersehen, der sie gekannt hatte, erzählen, sich Erleichterung verschaffen, den Stöpsel ziehen, jemandem sein Päckchen unterjubeln und sich wieder anderen Dingen zuwenden.
»Wo soll ich anfangen?«
Charles überlegte. »Ich habe sie das letzte Mal Anfang der neunziger Jahre gesehen. Normalerweise bin ich präziser, aber ... Er schüttelte lächelnd den Kopf, ich habe sehr daran gearbeitet, es nicht mehr zu sein, glaube ich. Wie jedes Jahr wollte sie an meinem Geburtstag mit mir Essen gehen und ...«
Seine Gastgeberin ermunterte ihn zum Weiterreden. Ein wohlwollendes, aber, ach, wie grausames Nicken. Eine kleine Geste, die besagte: Mach dir keine Sorgen, lass dir Zeit, uns hetzt nichts, weißt du. Nein, heute hetzt uns nichts mehr.
»... es war der traurigste Geburtstag meines Lebens. Innerhalb von einem Jahr war sie enorm gealtert. Ihr Gesicht war ganz aufgeschwemmt, ihre Hände zitterten. Sie wollte nicht, dass ich uns einen Wein bestellte, und rauchte eine Zigarette nach der anderen, um nicht zusammenzubrechen. Sie stellte mir Fragen, interessierte sich aber nicht im Geringsten für die Antworten. Log, behauptete, Alexis gehe es gut, er lasse mir Grüße ausrichten, obwohl ich genau wusste, dass es nicht stimmte. Und sie wusste auch, dass ich es wusste. Sie trug einen Pullover voller Flecken, der nach – was weiß ich – nach Kummer roch. Einer Mischung aus Aschenbechern und Kölnischwasser.Der
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