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Alles Glück kommt nie

Titel: Alles Glück kommt nie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Berufs zu lotsen. Wir liebten die Wunden, den Eiter und die Amputationen. Die detaillierten Beschreibungen der Lepra, der Cholera und der Tollwut. Den Sabber, den Wundstarrkrampf und die im Flaschenzug eingeklemmten Fingerspitzen. Fiel sie darauf rein? Natürlich nicht. Sie wusste, wie kindisch wir waren, und trug, sobald sich die Gelegenheit bot, besonders dick auf, und wenn sie spürte, dass wir ganz gut Bescheid wussten, fügte sie, ohne das Gesicht zu verziehen, hinzu:»Nein, also mal im Ernst. Der Schmerz ist was Gutes, wisst ihr das? Zum Glück gibt es ihn. Der Schmerz ist überlebenswichtig, Jungs. O ja! Ohne ihn würden wir unsere Hände ins Feuer halten, und nur weil einem ein unanständiges Wort rausrutscht, wenn man den Nagel nicht trifft, haben wir noch unsere zehn Finger! Das nur, um zu sagen, dass ... Was hat denn der Kerl mit seiner Lichthupe? Fahr vorbei, Idiot, fahr vorbei! Äh – wo war ich?«
    »Bei den Nägeln«, seufzte Alexis.
    »Ach ja! Das nur, um zu sagen: Handwerkerarbeiten, ein Barbecue sind was Gutes, kapiert? Aber später, das werdet ihr sehen, gibt es Sachen, die euch Leid zufügen. Ich sage ›Sachen‹, aber eigentlich denke ich dabei an Menschen. Menschen, Situationen, Gefühle und ...«
    Auf dem Rücksitz machte mir Alexis Zeichen, dass sie total durchgeknallt war.
    »Wenn ich die Lichthupe der anderen sehe, sehe ich dich auch, du Schlingel. He! Was ich euch sage, ist wichtig! Was euch im Leben Leid zufügt, das solltet ihr meiden, Herzchen. Nehmt die Beine unter den Arm und lauft davon. So schnell ihr könnt. Versprecht ihr mir das?«
    »Okay, okay. Wir machen es wie die Enten, mach dir keine Sor–«
    »Charles?«
    »Ja?«
    »Wie erträgst du das bloß?«
    Ich lächelte. Es gefiel mir mit ihnen.
    »Charles?«
    »Ja?«
    »Hast du verstanden, was ich gesagt habe?«
    »Ja.«
    »Was habe ich gesagt?«
    »Dass der Schmerz gut ist, weil er für unser Überleben sorgt, dass man aber vor ihm davonlaufen soll, auch wenn man keinen Kopf mehr hat ...«
    »So ein Arschkriecher«, stöhnte der Junge neben mir.
     
    Womit hast du dich ausgelöscht, Anouk Le Men? Mit einem schweren Hammer?

13
    Sie wohnte im 19. Arrondissement in der Nähe vom Krankenhaus Robert-Debré. Charles kam über eine Stunde zu früh. Er schlenderte über die Marschall-Boulevards und erinnerte sich an jenen sehr authentischen Herrn, der das Krankenhaus in den achtziger Jahren erbaut hatte. Pierre Riboulet. Seinen Professor in Stadtplanung an der Eliteuniversität ENPC.
    Ein Mann, der sehr authentisch, gutaussehend, intelligent war. Nicht viel sagte. Das wenige dafür sehr gut. Der ihm der zugänglichste seiner Dozenten zu sein schien, den er trotzdem nie anzusprechen wagte. Der auf der anderen Seite zur Welt gekommen war, in einem baufälligen Gebäude, ohne Luft, ohne Sonne, was er nie vergessen sollte. Der ihnen immer wieder predigte, dass ästhetisches Bauen »von großem sozialem Nutzen war«. Der sie aufforderte, Wettbewerbe zu verachten und die gesunde Rivalität der Büros zu suchen. Der ihnen die Goldberg-Variationen , die Ode an Charles Fourier , die Texte Friedrich Engels’ und vor allem, vor allem den Schriftsteller Henri Calet näherbrachte. Der auf Augenhöhe mit Menschen und Seelen Krankenhäuser, Universitäten, Bibliotheken baute und auf den Trümmern von Sozialwohnungen menschenwürdige Wohnhäuser. Und der vor wenigen Jahren im Alter von fünfundsiebzig Jahren gestorben war und zahlreiche verwaiste Baustellen hinterlassen hatte.
     
    Genau die Art von Parcours, von dem Anouk wohl geträumt hatte ...
     
    Er machte kehrt und suchte die Rue Haxo.
    Lief an der richtigen Hausnummer vorbei, stieß die quietschende Tür einer Kneipe auf, bestellte sich einen Kaffee,hatte nicht die Absicht, ihn zu trinken, sondern ging bis ganz nach hinten durch. Seine Eingeweide ließen ihn wieder im Stich.
    Machte seinen Gürtel zu. War beim letzten Loch angekommen.
    Zuckte vor den Waschbecken zusammen. Der Typ neben ihm sah wirklich übel mitgenommen aus, aber das bist ja du, du Elender. Das bist ja du.
    Er hatte seit zwei Tagen nichts mehr gegessen, war im Büro geblieben, hatte auf einer Art Klappmatratze gelegen, einem großen Sessel aus Schaumgummi, der nach kaltem Rauch roch, hatte wenig geschlafen und sich nicht rasiert.
    Seine Haare (ha ha) waren lang, seine Augen schwarz umrandet, seine Stimme klang spöttisch: »Los, Alter. Nur nicht aufgeben. Das hier ist die letzte Station. In zwei Stunden ist alles

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