Alles Glück kommt nie
Arsch, entschuldige bitte, ich weiß, ihr seid befreundet, aber mir fällt kein anderes Wort ein–«
»Nein. Er –«
»Wie bitte?«
»Nichts. Reden Sie weiter.«
»Er hat sie rausgeschmissen. Als er wieder die Kraft hatte, einen klaren Gedanken zu fassen, hat er ihr ganz ruhig erklärt, dass er sie als Konsequenz aus der Arbeit mit ›seinen Betreuern‹ nicht mehr sehen dürfe. Er hat es ihr übrigens ganz freundlich gesagt. Verstehst du, Mama, es ist zu meinem Wohlergehen,du darfst nicht mehr meine Mutter sein. Dann hat er sie in den Arm genommen, was er seit Jahren nicht mehr getan hatte, und ist zu den anderen zurückgekehrt in den schönen, von hohen Gitterzäunen umgebenen Park.
Daraufhin hat sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben krankschreiben lassen. Vier Tage, daran erinnere ich mich noch. Nach vier Tagen kam sie wieder und hat darum gebeten, in die Nachtschicht zu wechseln. Ich weiß nicht, welchen Grund sie angegeben hat, aber ich kenne ihn: Es ist leichter, einen über den Durst zu trinken, wenn der Laden einen Takt langsamer läuft. Die ganze Mannschaft war sehr lieb zu ihr. Sie, die unser Fels, unser Vorbild war, wurde zu unserer wichtigsten Rekonvaleszentin. Ich erinnere mich an diesen herrlichen Alten, Jean Guillemard, einen Arzt, der sein Leben lang über Multiple Sklerose geforscht hat. Er hat ihr einen wunderbaren, sehr ausführlichen Brief geschrieben, sie an die vielen Fälle erinnert, die sie zusammen betreut hatten, und er schloss mit den Worten, dass er, wenn er in seinem Leben häufiger mit Menschen von ihrem Schlage hätte zusammenarbeiten dürfen, heute vermutlich mehr wüsste und glücklicher in den Ruhestand ginge.
Alles in Ordnung? Möchtest du vielleicht noch eine Cola?«
Charles fuhr zusammen: »Nein, nein, ich ... Danke.«
»Ich aber. Entschuldige bitte, ich hole mir noch was. Du kannst dir nicht vorstellen, wie es mich aufwühlt, über das alles zu reden. Was für ein Schlamassel. Was für ein elender Schlamassel. Ein ganzes Leben, verstehst du?«
Stille.
»Nein, das könnt ihr nicht verstehen. Das Krankenhaus ist eine völlig andere Welt, und wer nicht dazugehört, kann das nicht verstehen. Menschen wie Anouk und ich haben mehr Zeit mit Kranken verbracht als mit unserer engsten Familie. Es war ein Leben, das sehr hart und zugleich sehr behütet war. Ein Leben in Uniform. Ich weiß nicht, wie es die Menschen heute machen, die diese etwas altertümlich anmutende Sache nicht mehr kennen, die man Berufung nennt. Das kann ich mirbeim besten Willen nicht vorstellen. Fühlt man keine Berufung, hält man es unmöglich aus. Und ich meine nicht den Tod, nein, ich meine etwas viel Schwierigeres. Den – den Glauben an das Leben, das ist es wohl. Ja, das ist das Härteste, wenn man in diesen Bereichen arbeitet. Man darf auf keinen Fall aus dem Auge verlieren, dass das Leben – keine Ahnung – legitimer ist als der Tod. An manchen Abenden, das kann ich dir versichern, ist die Müdigkeit ziemlich heimtückisch. Weil es diese Schwindelanfälle gibt und ... Na, so was«, scherzte sie, »was bin ich plötzlich philosophisch! Ach, wie weit sind sie weg, die Bonbonschlachten im Garten deiner Eltern!«
Sie stand auf und ging in die Küche. Er folgte ihr.
Sie schenkte sich ein großes Glas Mineralwasser ein. Charles, der sich ans Balkongeländer lehnte, stand vor dem Abgrund, im zwölften Stock. Schweigend. Geschwächt.
»Klar waren die ganzen Berichte für sie sehr wichtig, was ihr damals aber am meisten geholfen hat, wenn ich überhaupt von helfen sprechen kann, denn was dann kommt, ist weniger eindeutig, sind die Worte eines einzigen Mannes: Paul Ducat. Eines Psychologen, der zu keiner festen Abteilung gehörte, der aber mehrmals pro Woche zu Patienten, die ihn sehen wollten, ans Krankenbett trat.
Er war sehr gut, das muss ich zugeben. Es ist schon verrückt, aber ich hatte wirklich den Eindruck, ich meine körperlich den Eindruck, dass er das Gleiche machte wie der Reinigungsdienst. Er betrat einen Raum voller übler Ausdünstungen, schloss die Tür, blieb eine Weile, manchmal zehn Minuten, manchmal zwei Stunden, wollte von uns nichts über die Kranken wissen, richtete nie das Wort an uns, grüßte uns kaum, aber nach seinem Besuch war es – wie soll ich sagen –, war das Licht ein anderes. Als hätte der Typ ein Fenster aufgemacht. Eins dieser großen Fenster ohne Griff, die man nicht aufmachen kann, weil sie verriegelt sind.
Irgendwann kam er spätabends ins
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