Alles Glück kommt nie
Stationszimmer, was ernoch nie getan hatte, aber er brauchte ein Blatt Papier, glaube ich. Und sie war da, hatte einen Spiegel in der Hand, schminkte sich im Dunkeln.
Entschuldigung, sagte er, darf ich Licht machen? Da hat er sie gesehen. Und was sie in der anderen Hand hielt, war kein Augenbrauen- oder Lippenstift, sondern ein Skalpell.«
Sie trank einen großen Schluck Wasser.
»Er hat sich neben sie gekniet, hat ihre Wunden gereinigt, an diesem Abend und noch Monate danach. Hat ihr lange zugehört und ihr versichert, dass Alexis’ Reaktion völlig normal sei. Mehr als das, lebensbejahend, gesund. Er würde zurückkommen, er war doch immer zurückgekommen, oder? Sie sei keine schlechte Mutter gewesen. Auf keinen Fall. Er habe viel mit Drogenabhängigen gearbeitet, und diejenigen, die geliebt worden waren, kamen viel besser wieder davon los. Und Gott weiß, wie sehr er geliebt wurde, was? Ja, lachte er, ja, Gott wusste es! Er sei bestimmt eifersüchtig! Dass ihr Sohn da war, wo er jetzt war, er würde sich erkundigen, ihr berichten, sie solle sich so verhalten wie immer. Das heißt, einfach nur da sein, und vor allem, vor allem, sich selbst treu bleiben, denn Alexis musste diesen Weg jetzt gehen, vielleicht würde der Weg ihn von ihr wegführen. Zumindest für einige Zeit. Glauben Sie mir, Anouk? Und sie hat ihm geglaubt und ... Du siehst gar nicht gut aus. Alles in Ordnung? Du bist ganz blass.«
»Ich glaube, ich brauche was zu essen, aber ich habe ...« Er versuchte zu lächeln, »na ja, ich ... Haben Sie etwas Brot?«
»Sylvie?«, brachte er zwischen zwei Bissen heraus.
»Ja?«
»Sie erzählen gut.«
Ihr Blick verschwamm. »Das kommt nicht von ungefähr. Seit sie tot ist, denke ich an nichts anderes mehr. Nachts, tagsüber, ständig kommen mir Erinnerungsfetzen in den Sinn. Ich schlafe schlecht, ich führe Selbstgespräche, stelle ihr Fragen,versuche zu verstehen. Sie hat mich meinen Beruf gelehrt, ihr verdanke ich die besten Momente meiner Karriere und auch meine heftigsten Lachkrämpfe. Sie war immer da, wenn ich sie brauchte, fand immer die richtigen Worte, die den Leuten Kraft gaben, sie toleranter machten. Sie ist die Patin meiner ältesten Tochter, und als mein Mann Krebs bekam, war sie wie immer wunderbar. Zu mir, zu ihm, zu den Kleinen –«
»Ist er – äh –«
»Nein, nein«, ihr Gesicht hellte sich auf, »er lebt noch! Aber du wirst ihn nicht sehen, er hielt es für besser, uns allein zu lassen. Soll ich weiterreden? Hast du noch Hunger?«
»Nein, nein, erzählen Sie – erzähl weiter –«
»Sie hat ihm also geglaubt, habe ich gesagt, und ich habe gesehen, habe mit eigenen Augen gesehen, gesehen , hörst du, was man ›die Macht der Liebe‹ nennt. Sie hat sich wieder berappelt, hat aufgehört zu trinken, hat abgenommen, wurde jünger, und unter dem Schorf ihres – Kummers, wie du vorhin sagtest, kam ihr altes Gesicht wieder zum Vorschein. Dieselben Gesichtszüge, dasselbe Lächeln, derselbe heitere Blick. Erinnerst du dich, wie sie war, wenn ein Streich in der Luft lag? Lebhaft, unwiderstehlich, verrückt. Wie kecke Schülerinnen, die sich im Schlafsaal irren und nie erwischt werden. Und hübsch, Charles, so hübsch.«
Charles erinnerte sich.
»Na ja, er hat das bewirkt, dieser Paul. Du ahnst ja nicht, wie froh ich war, sie so zu sehen. Ich dachte nur: geschafft, das Leben hat endlich begriffen, was es ihr schuldet. Endlich dankt ihr das Leben. Zur selben Zeit habe ich aufgehört zu arbeiten. Mein Mann war der Auslöser. Er war nur knapp mit dem Leben davongekommen, und wenn wir den Gürtel enger schnallten, konnten wir auf mein Gehalt verzichten. Außerdem erwartete unsere Tochter ein Kind, und Anouk war zurück, folglich war es an der Zeit, kürzerzutreten und mich ein wenig um meine Leute zu kümmern. Das Baby kam zur Welt, ein kleiner Guillaume, und ich habe gelernt, wieder wie ein normalerMensch zu leben. Ohne Stress, ohne Wochenendschichten, ohne erst meinen Kalender zücken zu müssen, wenn jemand mit mir ausgehen wollte, und ich habe darüber all diese Gerüche vergessen. Die Essenstabletts, die Desinfektionsmittel, den in der Maschine durchlaufenden Kaffee, das Blut ... Das alles habe ich gegen Nachmittage auf dem Spielplatz und Keksschachteln eingetauscht. Damals habe ich Anouk ein wenig aus den Augen verloren, aber wir haben von Zeit zu Zeit telefoniert. Alles lief bestens.
Und dann eines Tages, vielmehr eines Nachts, hat sie mich angerufen, und ich habe kaum
Weitere Kostenlose Bücher