Alles Glück kommt nie
dir wie aus dem Gesicht geschnitten sei.«
Charles geriet ins Wanken. »Das ... Woher wusste sie –?«
»Ich weiß es nicht. Ich denke, sie hat dich nicht aus den Augen verloren.«
Sein Gesicht war ein einziger Krampf.
»An der nächsten Station bin ich wie benommen ausgestiegen, und als ich dann wieder von ihr gehört habe, war die Nachricht, dass ihre Beisetzung in zwei Tagen stattfände.
Es war übrigens nicht Alexis, der mich informiert hat, es war eine ihrer Nachbarinnen, mit der sie sich ein wenig angefreundet hatte und die meine Nummer in ihren Sachen gefunden hatte.«
Sie zog ihre Weste enger um sich.
»Jetzt sind wir im letzten Akt angekommen. Draußen ist es eiskalt, die Szene spielt ein paar Tage vor Weihnachten auf einem kreuzerbärmlichen Friedhof. Keine Trauerfeier, keine Reden, nichts. Sogar die Kerle vom Beerdigungsinstitut warenverunsichert. Sie warfen beunruhigte Blicke in die Runde, um zu sehen, ob jemand das Wort ergreifen wollte, aber nein. Nach einer ganzen Weile sind sie dann näher an den Sarg herangetreten, haben so getan, als würden sie sich ein paar Minuten sammeln, die Hände vor dem Hosenschlitz verschränkt, was soll’s, und haben die Seile losgemacht, dafür wurden sie schließlich bezahlt.
Ich war überrascht, dich nicht zu sehen, aber sie hatte mir ja erzählt, dass du viel reist ...
Vor mir waren nur ganz wenige Menschen. Eine ihrer Schwestern, glaube ich, die den Eindruck machte, als würde sie sich zu Tode langweilen, und die unentwegt an ihrem Handy herumspielte, Alexis, seine Frau, ein weiteres Ehepaar und ein älterer Herr, der eine Art Rotkreuzuniform trug und wie ein Schlosshund heulte und – das war’s.
Aber hinter uns, Charles, hinter uns ... Fünfzig, sechzig Leute. Vielleicht noch mehr. Viele Frauen, jede Menge Kinder, ganz kleine, Jugendliche, lange Lulatsche, die nicht wussten, wohin mit ihren Armen, alte Frauen, alte Männer, Sonntagsanzüge, Blumensträuße, wunderschöne Schmuckstücke und Schund auf Designerjacken, Hinkefüße, toll Ausstaffierte ... Hier war alles vertreten, alle Typen, alle Altersstufen, alle Gesellschaftsschichten. Alle, denen sie irgendwann einmal Erleichterung verschafft hatte, nehme ich an.
Was für eine Truppe. Aber kein Laut, kein Geplärre, eine unglaubliche Stille, doch als die Sargträger zurücktraten, haben sie alle angefangen zu klatschen. Anhaltender Applaus.
Es war das erste Mal, dass ich auf einem Friedhof Applaus hörte, und in dem Moment habe ich es mir endlich erlaubt zu heulen: Sie hatte ihre Hommage erhalten, und ich kann mir nicht vorstellen, welcher Pfarrer oder welches dem Anlass angemessene Blabla zu ihrer Person Zutreffenderes hätte beisteuern können.
Alexis hat mich erkannt und ist mir um den Hals gefallen. Er schluchzte dermaßen laut, dass ich nicht verstanden habe,was er sagen wollte. Es ging wohl darum, dass er ein schlechter Sohn war und bis zum Ende versagt habe. Ich habe die Hände wieder in die Taschen gesteckt, es war kalt und er schien es sich hier ein bisschen leicht machen zu wollen. Seine Frau warf mir ein verkniffenes Lächeln zu und kam, um ihn von meinem Mantel zu lösen. Dann bin ich gegangen, ich hatte hier nichts mehr verloren. Auf dem Parkplatz hat mich eine Frau dann beim Vornamen gerufen. Die, die mich benachrichtigt hatte. Sie schlug vor: Kommen Sie, wir gehen noch was Warmes trinken. Gut, wenn man sie sich aus der Nähe anschaute, begriff man schnell, dass warme Getränke in ihrem Leben nicht die Hauptsache waren. Sie hat dann auch Pastis bestellt.
Und hat mir die letzten Jahre in Anouks Leben geschildert. Was Anouk alles für diese Leute getan hatte, und mehr noch! Sie konnten gar nicht alle kommen! Im Bus von Sandys Sohn war nicht genug Platz! Und es war auch gar nicht sein Bus.
Ich werde dich nicht endlos damit langweilen, du hast sie genauso gut gekannt wie ich. Du kannst es dir vorstellen. Diese Dame hatte gewisse Probleme beim Artikulieren, aber zwischendurch hat sie etwas sehr Schönes gesagt: ›Die Frau hier, was soll ich sagen, tja, die hatte ein Herz, so groß wie ein Ballon, das kann ich Ihnen sagen ...‹«
Zwei Lächeln.
»Woran ist sie gestorben?, habe ich die Frau gefragt. Aber sie konnte nicht mehr. Das alles nahm sie zu sehr mit. Dann spürte ich plötzlich einen Luftzug im Rücken, und sie brüllte: Jeannot! Komm und sag der Frau hier guten Tag! Das ist eine Freundin von der Anouk!
Es war mein Schlosshund von vorhin, mit einem Taschentuch groß wie
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