Alles Glück kommt nie
stellte ihr Glas ab und schwieg.
»Und dann?«, wagte Charles sich vor. »War’s das?«
»Nein. Oder ja, im Grunde schon.«
Sie entschuldigte sich, nahm die Brille von der Nase, riss ein Stück Zewa Wisch & Weg ab und ruinierte ihre Schminke.
Charles erhob sich, stellte sich ans Fenster, und während er ihr den Rücken zukehrte, hielt er sich am Balkongeländer fest wie an einer Reling.
Er hatte Lust auf eine Zigarette. Traute sich nicht. In diesem Haus gab es einen Krebskranken. Vielleicht hatte die Krankheit nichts mit Nikotin zu tun, aber wie sollte er das wissen? Er betrachtete die Türme weit weg und dachte wieder an diese Leute ...
Die sie nie geliebt hatten. Die sie nie bei ihrem richtigen Vornamen genannt hatten. Die sie in die Sucht getrieben, ins Verderben und an die Flasche geführt hatten. Die ihr nie die Hand gereicht hatten, es sei denn, um ihr das bisschen Geld wegzunehmen, das sie verdiente, indem sie den Sterbenden das Sterben verbot, während Alexis allein seinen Ranzen packte und sich den Schlüssel um den Hals hängte, die aber – seien wir nicht ungerecht – an einem sentimentalen Abend Nounou die Gelegenheit gegeben hatte, eine fantastische Darbietung zu geben.
»Hör auf, Schätzchen, mit diesen Nichtsnutzen. Hör auf damit. Was willst du eigentlich? Sag schon ...«
Und indem er sich hier und da in der Küche ein paar Accessoires suchte, imitierte er sie nacheinander.
Erweckte sie zum Leben.
Den schimpfenden Papa. Die tröstende Mama. Den stichelnden Bruder. Das lispelnde Schwesterchen. Den faselnden Opa. Die alte Tante, deren feuchte Schmatzer fürchterlich kratzten. Den furzenden Großonkel. Den Hund und die Katze und den Postboten und den Herrn Pfarrer und sogar den Feldhüter, für den er sich Alexis’Trompete borgte. Es war lustig wie auf einer echten Familienfeier ...
Er atmete einen großen Schluck Stadtautobahnluft ein und, mein Gott, was für ein hässliches Wort, verbalisierte , was ihn seit sechs Monaten nicht mehr losließ. Nein, seit zwanzig: »Ich – ich gehöre auch dazu.«
»Wozu?«
»Zu denen, die sie im Stich gelassen haben.«
»Ja, aber du hast sie wenigstens geliebt.«
Er drehte sich um, und sie fügte mit einem spöttischen Grübchen hinzu: »Bis über beide Ohren ...«
»War das so deutlich zu sehen?«, fragte der alte Junge beunruhigt.
»Nein, nein, keine Bange. Es war fast so unauffällig wie Nounous Kostüme.«
Charles senkte den Kopf. Sein Lächeln kitzelte ihm die Ohren.
»Weißt du, ich wollte dich vorhin nicht unterbrechen, als du behauptet hast, er sei ihre einzige Liebesgeschichte gewesen, aber als ich neulich auf dem Friedhof war und all die orangefarbenen Buchstaben gesehen habe, die mir wie ein großes Feuerwerk inmitten dieser – Trostlosigkeit ins Gesicht blitzten, da habe ich, obwohl ich mir geschworen hatte, nicht mehr zu heulen, wieder angefangen ... Und dann kam diese schreckliche Frau von nebenan und hat nur tzz tzz gemacht. Sie habe ihn gesehen, den Dreckskerl, der das gemacht hat, eine Schande ist das ... Ich habe nichts gesagt. Wie sollte sie das auch verstehen, die arme Frau? Aber ich habe gedacht: Dieser Dreckskerl, wie Sie sagen, war die Liebe ihres Lebens.
Sieh mich nicht so an, Charles, ich habe dir doch gerade gesagt, dass ich nicht mehr heulen will. Mir reicht’s. Und außerdem würde sie uns so nicht sehen wollen, es ist ...«
Zewa Wisch &Weg.
»Sie hatte ein Foto von dir in ihrem Geldbeutel, sie hat ständig von dir gesprochen, hat nie ein böses Wort über dich verloren. Sie hat gesagt, du wärst der einzige Mann auf der ganzen Welt – mal abgesehen von dem armen Nounou –, der sich ihr gegenüber wie ein Gentleman benommen hätte.
Sie hat auch gesagt, dass Alexis da wieder rausgekommen ist, sei ganz allein dir zu verdanken, du hättest dich, als ihr klein wart, besser um ihn gekümmert als sie. Hättest ihm bei den Hausaufgaben und seinen Vorspielterminen geholfen, und ohne dich wäre alles noch viel schlimmer gekommen. Du wärst das Rückgrat in einem Haus mit lauter Irren gewesen.«
»Das Einzige, was ...«, fügte sie hinzu.
»Ja?«
»Was sie zur Verzweiflung brachte, war, glaube ich, das Wissen darum, dass ihr euch verkracht hattet.«
Stille.
»Kommen Sie, Sylvie«, brachte er schließlich heraus, »bringen wir es zu Ende.«
»Du hast recht. Es dauert nicht mehr lange. Sie hat das Krankenhaus also unauffällig verlassen. Hatte sich mit der Leitung geeinigt, den anderen
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