Alles Gold der Erde
konnte nicht fliehen. Mit einer Wunde im Bein kann ein Mann nicht laufen.«
»Dann habe ich ihn also getötet?« fragte Marny leise. »Hiram, das wollte ich nicht.« Ihre Stimme wurde ein wenig fester. »Oder vielleicht wollte ich's doch. Ich weiß es nicht. Das ist alles so schnell passiert, und ich hatte auch so viel Angst. Ehrlich – ich weiß nicht, ob ich ihn umbringen wollte oder nicht.«
»Was heißt das?« rief Pocket. »Wer hat Captain Pollock umgebracht?«
Marny berichtete ihm von dem Vorfall. »Ich weiß wirklich nicht, ob ich die Absicht hatte, ihn zu töten«, wiederholte sie am Ende. »Jedenfalls habe ich jetzt ein Schuldgefühl.«
Pocket hatte stumm zugehört. Nun lächelte er sie beruhigend an.
»Sie haben ihn nicht töten wollen, Marny.«
»Wieso können Sie das wissen?« fragte sie eifrig.
»Wenn Sie ihm unter dem Knie ins Bein geschossen haben, dann müssen Sie gut gezielt haben. Das ist genau die richtige Stelle, um einen Mann kampfunfähig zu machen. Sie wollten sich selber schützen, ihn aber nicht töten. Er fiel um, hatte jedoch keine tödliche Verletzung erlitten. Und das haben Sie, ob bewußt oder unbewußt, gewollt. Sie haben gut gezielt, weil Sie nicht die Absicht hatten, ihn umzubringen.«
Marny seufzte erleichtert auf. Kendra drückte ihr die Hand. Hiram stimmte Pockets Meinung lebhaft bei. »Und Sie haben ihn ja auch nicht umgebracht. Es waren diese Rowdies, die das Feuer gelegt haben, in dem er umgekommen ist.«
Pocket schüttelte den Kopf. »Weißt du, Hiram, ich finde, es kommt der Wahrheit näher, wenn wir sagen, daß Pollock sich selbst umgebracht hat. Hätte er Marny nicht berauben wollen, wäre er auch nicht verletzt worden. Und wenn er nicht verletzt worden wäre, hätte er die Chance gehabt, sich vor den Flammen zu retten.«
Pocket machte eine Pause. Dann sprach er weiter:
»Und jetzt muß ich noch an etwas anderes denken, Marny. Pollock mag gestern abend bankrott gewesen sein. Wäre er jedoch ein ehrlicher Mann geblieben, dann könnte er heute reich werden.«
»Wieso denn das?«
»Er hat Marny erzählt, daß er das Recht besitze, sie zu bestehlen, weil er keine Backsteine und kein Bauholz mehr verkaufen könne. Nun, beides war gestern nahezu wertlos. Heute dagegen sind Backsteine und Bauholz kostbar. Drei Viertel von San Francisco sind abgebrannt, und die Leute müssen sich wieder Häuser bauen. Sie werden so viele Backsteine und so viel Holz kaufen, wie sie nur kriegen können. Pollocks Lager ist unversehrt.«
Und damit ergriff Pocket Geraldines Hütte.
»Auf jetzt, ihr Leute! Ich bin hungrig. Wir wollen zum Calico-Palast gehen und dort frühstücken.«
Gestern hatte man zehn Minuten gebraucht, um von der Buchhandlung zum Calico-Palast zu gehen. Heute morgen mußten sie immer wieder Waren ausweichen, die über der Plaza verstreut lagen. In der Kearny Street türmten sich Mauerwerk und Holzverschalungen zuhauf. Unter Schuttbergen lagen Tote. Mehr als nur einmal wurden sie angehalten und hatten sich die Klagen von Leuten anzuhören, die jetzt bettelarm waren. Andere flehten: »Haben Sie den Soundso nicht gesehen? Ich kann ihn nicht finden. Ich fürchte, daß er …« Sie brauchten lange für ihren Weg.
Sie sagten kaum etwas, denn sie waren viel zu erschöpft und mitgenommen von den Tragödien, die sich ringsum abspielten. Doch später entsann sich Marny einer Bemerkung, die Pocket zwischen den Zähnen ausgestoßen hatte: »Und das haben Menschen getan. Und zwar absichtlich.«
»Einige dieser Kreaturen sind dabei umgekommen«, hatte Marny ihm darauf geantwortet.
»Viel zu wenige.«
So sanftmütig er auch war, an diesem Tage hätte Pocket einen Brandstifter kurzerhand über den Haufen geschossen. Dessen war sich Marny gewiß.
Ja, der Calico-Palast hatte das Grauen überstanden. Die Fensterläden waren zersplittert, die Mauern mit Ruß verschmiert, Bruno Greggs hübsche Transparenzbilder verbrannt; die großen Goldlettern CALICO-PALAST an der Vorderfront sahen nun runzlig aus wie Blätter im Herbst; das Gebäude jedoch ragte wuchtig und einsam inmitten der Verwüstungen empor. Troy, der am Hauptportal Wache hielt, berichtete ihnen, Lulu, Lolo und Zack seien zu Bett gegangen. Norman und Hortensia saßen auf der Treppe und stärkten sich gerade mit Brot, Käse und Wein. Norman erzählte, Hortensia habe sich großartig benommen, einfach großartig. Nicht eine Minute habe sie den Kopf verloren. Sie habe für jeden einen Koffer gepackt, so daß sie alle Kleider
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