Alles Gold Der Erde
Kendra.
»Dauernd fragt er mich: Vermißt du denn New York nicht? New York mit seinen Restaurants, Hotels, Theatern, eleganten Läden? Willst du denn nicht ein luxuriöses Leben führen? Möchtest du nicht gern in einer Kutsche den Broadway hinabrollen?«
»Und Sie vermissen das wirklich nicht?« erkundigte sich Kendra eindringlich.
»Natürlich vermisse ich das. Würden Sie denn nicht auch lieber in einer sauberen Stadt leben, wo die Menschen Manieren haben? Würden Sie nicht lieber frisches Fleisch essen, statt Rettich in Blumenkästen zu ziehen?«
»Doch«, gab Kendra zu. »Aber ich vermisse keinen Menschen in den Vereinigten Staaten. Dort gibt es niemanden, der meine Rückkehr wünscht.«
»Richtig«, bemerkte Marny. »Mir geht's genauso. Meine Brüder und Schwestern und Tanten und Onkel und Kusinen – sie alle sind rückständige Spießer. Sie sollen jenseits der Rocky Mountains bleiben. Ich bleibe auf dieser Seite.«
Kendra dachte an den Grundbesitz, den Archwood in San Francisco erworben hatte. Sein Wert mußte noch steigen. Nun, mittlerweile war er bereits gestiegen. Er konnte ihn jetzt verkaufen und würde dreimal soviel dafür bekommen. Sie sagte das.
»Ja, er wird verkaufen«, meinte Marny. »Wenn Norman und ich nur das Grundstück kaufen könnten, auf dem der Calico-Palast steht. Aber wir brauchen unser Geld, damit die Bank immer flüssig ist für die Spiele. Aber schließlich dürfen wir uns nicht beklagen. Unsere Geschäfte gehen gut.«
Nach einem kurzen Schweigen trat Marny wieder vor den Spiegel. Sie musterte sich und sagte dann versonnen:
»Warren wird mir fehlen.« Sie berührte die mit Juwelen verzierte Nadel an ihrem Kleid. »Immerhin bleiben mir ja viele Dinge, die mich an ihn erinnern.« Wieder blickte sie in den Spiegel. Sie sah hinter ihrer Gestalt die Dächer, und darüber ragten die Mastspitzen der Schiffe herauf. »Der Nebel lichtet sich«, sagte sie. »und der Himmel ist schon klar. Kendra, ich glaube, wenn wir nach oben gehen, können wir die ganze Bucht überblicken.«
»Ja, gehen wir hinauf«, stimmte Kendra zu. »Wir nehmen Lorens Fernglas mit.«
Im Schlafzimmer öffnete Kendra das Fenster. Die Bucht und die jenseitigen Berge waren deutlich zu erkennen. In der Strömung wiegten sich die aufgegebenen Segler. Obwohl man so viele Schiffe auf den Strand gesetzt hatte, um sie zu bewohnen, schaukelte noch immer eine ganze Anzahl im Wasser, sie stießen bei starkem Wind oft gegeneinander. Ein Kapitän, der sein Schiff sicher vor Anker bringen wollte, mußte sehr geschickt vorgehen, um eine Havarie zu vermeiden. Kendra blickte auf die Rümpfe dort unten und fragte:
»Wie will Archwood denn überhaupt von hier wegkommen?«
»Die Dampfergesellschaft hat die Löhne heraufgesetzt. Deshalb zweifelt Warren nicht daran, daß die Dampfer bald regelmäßig einen Pendelverkehr zwischen San Francisco und der Meerenge von Panama betreiben werden. Wenn ein Seemann weiß, daß er in ein paar Wochen wieder hier sein wird, läßt er sich auch für eine kurze Reise anheuern. Wenn es ihm an Bord nicht mehr gefällt, geht er eben in die Goldfelder. Das ist etwas anderes als eine Fahrt in die Vereinigten Staaten.«
»Macht es ihm nichts aus, den Isthmus zu überqueren?«
»Er sagt, das ist nicht mehr so gefährlich wie am Anfang. Jetzt wird ja auch schon Post auf diesem Weg befördert und sogar Gold. Die Leute werden von bewaffneten Wachen beschützt.«
»Marny!« rief Kendra plötzlich aus.
»Ja, was ist?«
Kendra schaute immer noch auf die Bucht hinab. Mit ihrer freien Hand griff sie nach Marnys Arm.
»Einen Moment, gleich gebe ich Ihnen das Glas, aber erst will ich sicher sein …«
Soeben fuhr ein Schiff in die Bucht. Es war ein großes stolzes Schiff. Der Wind schwellte die Segel. Die Galionsfigur war eine weiße Göttin mit einem Halbmond. Kendra reichte Marny das Fernglas. Auch Marny hielt den Atem an. Dann stieß sie hervor:
»Aber Kendra! Ist das nicht die Cynthia?«
»Doch. Sie kommt aus China zurück.«
»Dann haben wir also unseren Freund Pollock wieder unter uns«, murmelte Marny.
Gleich darauf lachte sie kurz. »Was will er denn wohl diesmal?«
»Er wird Wasser und Proviant an Bord nehmen«, meinte Kendra. »Vielleicht hat er auch Handelsware geladen. Er hat ja gesagt, daß er noch einmal nach San Francisco kommen wolle. Aber ich kann ihn nicht verstehen. Er muß doch längst gehört haben, was mit Schiffen passiert, die unseren Hafen anlaufen. Was mag ihn nur veranlaßt
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