Alles Gold Der Erde
Der zweite Name befremdete Marny ein wenig. Sie wußte, daß Pocket eigentlich Sylvester Brent hieß, aber sie hatte ihn in Worten und Gedanken stets Pocket genannt. »Das klingt so gar nicht nach Ihnen, Pocket.«
»Aber so heiße ich doch«, versetzte er. »Unter diesem Namen läuft auch mein Konto bei Hirams Bank. Alle Welt nennt mich Pocket; sie wollen aber keine Schecks von mir annehmen, auf denen ich mit Pocket unterschreibe.«
Sie lachten und gingen weiter. Kendra, die längst das Kindbett verlassen hatte, war froh über den Besuch. Sie wurde noch froher, als Hiram und Pocket ihr erzählten, daß sie in der Stadt blieben. Sie lud alle drei zum Weihnachtsessen ein. Hiram und Pocket pfiffen, Marny schüttelte indessen zu Kendras Überraschung den Kopf.
»Aber warum willst du denn nicht kommen?« rief sie aus.
»Ihr solltet wissen, daß unsereiner immer dann am meisten zu tun hat, wenn andere Leute feiern. An Feiertagen machen wir im Calico-Palast die besten Geschäfte.«
»Aber wollen Sie denn überhaupt nicht Weihnachten feiern?« protestierte Pocket.
Marny verneinte gelassen. »Im letzten Jahr hab' ich's ja auch nicht getan.«
Kendra hatte mit einemmal ein schlechtes Gewissen. Sie mußte an das Weihnachtsessen denken, das sie vor einem Jahr Mr. Chase und Frau, Mr. Fenway und den Leutnants gegeben hatte. An Marny hatte sie gar nicht gedacht. Dieses Essen hatte sie ja auch bloß deshalb vorgeschlagen, um nicht zu dem Ball im Comet House gehen zu müssen, wo sie einst mit Ted getanzt hatte. Vieles war seitdem geschehen.
»Gut also«, entschied sie. »Wir veranstalten eben kein Weihnachtsessen am Weihnachtstag. Statt dessen feiern wir an einem Tag, wenn Marny bei uns sein kann. Wie wär's damit?«
Alle waren einverstanden. Dieses Jahr fiel Weihnachten auf einen Dienstag. Sie würden am Sonntag, dem 23. Dezember, ihr Festmahl halten, denn an diesem Tag war der Laden geschlossen, und Loren hatte frei. Marny erklärte sie, sie werde ebenfalls einmal dem Spiel fernbleiben. »Hoffentlich regnet es nicht«, meinte sie.
Diese Hoffnung hegten auch die andern. Kendra wollte das Essen auf zwei Uhr richten, so daß sie vor Anbruch der Dunkelheit heimgehen konnten. In San Francisco gab es nämlich keine Straßenbeleuchtung. Nur die Plaza war erhellt. Wer sich in der Nacht aus dem Haus wagte, mußte eine Laterne bei sich tragen, aber selbst dann waren die Straßen gefährlich, denn allerorten lauerten Sumpflöcher. Ratten und Räuber.
Sie winkten einander zum Abschied fröhlich zu und versprachen, morgen oder übermorgen wiederzukommen. Dieses Versprechen konnten sie jedoch nicht halten, denn am Abend begann es wiederum zu regnen.
Es regnete acht Tage lang. Der Sturm tobte wild um die Berge. Er brachte Häuser zum Einsturz und riß die Zelte aus ihren Verankerungen. In der Bucht schmetterten hohe Wogen die hilflosen Schiffe gegeneinander. Der Schlamm ergoß sich in solchen Strömen die Hänge hinab, daß Kendra am Zustandekommen ihrer Weihnachtsfeier zweifelte.
In der Woche vor dem Fest ließen die Regengüsse jedoch nach. Es war noch immer grau und kalt. Aber ungeachtet des Schlamms, des Nebels und der Rattenschwärme war jedermann in guter Laune. Die Kapellen an der Plaza schmetterten Melodien, die sie für Weihnachtsmusik hielten. Auf den festeren Straßen boten Jungen Immergrün von den Bäumen jenseits der Bucht feil. Die Ladenbesitzer dekorierten ihre Schaufenster mit allerhand glitzerndem Tand.
Am Samstag erschien Hiram mit einem Arm voll Immergrün und einer Rolle rotem Band bei Kendra. Er wollte das Haus schmücken. Gemeinsam hängten sie Zweige an den Fenstern auf und vergaßen auch nicht, die Krippe mit ein bißchen Grün zu schmücken. »Pocket«, so berichtete Hiram. »ist zur Plaza gegangen, wo Grundstücke versteigert werden. Pocket hat eine Schwäche für Versteigerungen.«
»Pocket hat eine Schwäche für alles«, meinte Kendra. »Er hat einfach alles und jeden gern. Ich glaube. Pocket ist einer der glücklichsten Menschen überhaupt.«
»Er verdient es auch«, erklärte Hiram. »Pocket läßt sich nicht unterkriegen. Denken Sie doch bloß an die Geschichte mit diesem Mädchen in Kentucky.«
Kendra blickte auf. »Ich wußte nicht, daß er Ihnen davon erzählt hat.«
»Doch, er hat's getan. Pocket besitzt eine Eigenschaft, die der Mensch am allernötigsten braucht in dieser Welt: nämlich Mumm. Da haben Sie aber eine nette rote Schleife an die Tannenzweige gebunden. Geben Sie mir das Ding, und
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