Alles Gold Der Erde
ruhig bis morgen früh da oben bleiben können. So dumm bin ich wiederum auch nicht.«
Er lächelte ihr zu. »Sie nehmen es ziemlich leicht hin, Marny.«
»Keineswegs«, sagte Marny. »Wir haben erst im September aufgemacht, und jetzt, an Weihnachten, ist der ganze Zauber schon flötengegangen. Ich fühle mich krank. Aber ich bin froh, daß Sie mich erwischt haben. Ich habe da etwas …« Mit der Spitze ihres schmutzigen Schuhs trat sie gegen das Bündel. »Ich habe da etwas, das man in Sicherheit bringen sollte.«
»Gut«, erwiderte Hiram, »ich werde Ihnen helfen. Versuchen wir, uns nach Chase und Fenways Laden durchzuschlagen!«
»Also steht das Geschäft noch?« erkundigte sie sich voller Hoffnung.
»Ich weiß es nicht. Das wollen wir ja gerade herausfinden.«
Hiram wies auf die Leiter. Dort stand Pocket mit seinem liebenswürdigen Lächeln wie ein junger Mann, der ein Mädchen in eine Gesellschaft begleitet und nur den einen Wunsch hat, alles richtig zu machen. Marny warf ihm eine Kußhand zu. Hiram packte das Bündel. Das Gewicht verriet ihm den Inhalt, und er grinste. »Haben Sie Ihre Pistole bei sich?«
»Ja.«
»Lassen Sie sie nicht aus der Hand. Auf jetzt!«
Marny seufzte erleichtert. Sie wußte nicht mehr, wie lange es her war, seit das Feuer sie geweckt hatte; sie wußte jedoch, daß die vergangenen Stunden zu den schwersten ihres Lebens zählten. Allmählich fühlte sie sich am Ende ihrer Kräfte. Sie wollte ihr Geld an einem sicheren Ort wissen. Die drei brachen auf.
Hiram und Pocket waren vollständig angekleidet. Offenbar hatten sie sich nicht – wie sie selber – in Minutenschnelle anziehen müssen. »Ist im St. Francis Hotel nichts passiert?« fragte Marny.
»Nein«, sagte Pocket, »das Hotel brennt nicht, auch die andern Bauten in der Clay Street sind unbeschädigt. Ob wir selber Verluste erlitten haben, das wissen wir nicht. Unser Gold ist zusammen mit dem Bargeld im Laden im Safe untergebracht. Auf dem Weg dorthin haben wir Sie auf der Plattform gesehen.«
»Da haben wir natürlich haltgemacht«, erklärte Hiram.
»Ich liebe euch«, bemerkte Marny.
Sonst sagte sie nichts. Die Männer hatten sie bei den Armen genommen und führten sie zur Clay Street. Sie kamen nur langsam voran. Als sie endlich in der Straße eintrafen, stellten sie fest, daß hier weniger Leute auf den Beinen waren. Jetzt konnten sie auch schneller gehen als in der Montgomery Street.
Marny raffte ihr hinderliches Kleid zusammen und watete über die sumpfige Fahrbahn. Das Hotel Delmonico brannte noch nicht, konnte indessen jeden Augenblick in Gefahr geraten. Während eine Reihe von Leuten sich abplagte, das Haus zu schützen, schlugen andere die Tür ein und rannten bald darauf mit Diebesgut davon: mit Stühlen, Lampen, Schnaps. Was ihnen in die Hände gefallen war, ließen sie mitgehen.
»Was für ein Vergnügen wäre es doch, diese Kerle abzuknallen«, murmelte Marny.
»Freilich«, stimmte Pocket zu, »aber tun Sie's bitte, nicht. Wir haben schon genug Sorgen.«
Ob wohl auch jemand Zeit gefunden hatte, im Calico-Palast zu plündern, ehe er eingestürzt war? Während die beiden Männer Marny weiterschleppten, schien es ihr, als dämmere bereits der Morgen herauf. Zwischen Flammen und Rauchsäulen war sie dessen aber nicht sicher. Dann fiel ihr ein, wie glücklich sie gestern bei Kendra und ihrem Kleinen gewesen waren. Brannte es etwa auch auf dem Berghang? Jedenfalls hatte Kendra sich wohl rechtzeitig in Sicherheit bringen können. Allerdings mußte das Baby dabei in Gefahr gewesen sein: Ein so kleines Kind, das plötzlich aus seinem warmen Bettchen genommen und in die kalte Nachtluft getragen wird … Sie dachte darüber nach, als sie Pocket rufen hörte:
»Na, so was – Loren!«
Im Schein der Brände sahen sie Loren, aus Richtung Montgomery Street kommend, den Berg hinansteigen. Er trug ein Kind, ein kleines Kind, das vor Angst schrie und sich aus seinen Händen zu befreien suchte. Hinter Loren rannte Lolo, die vor Furcht schluchzte. Jetzt erkannte Marny, daß Loren den kleinen Zack schleppte.
Pocket und Hiram riefen so lange, bis Loren sie sah und auf sie zukam. Lolo streckte unter Tränen ihre Hände aus. Zack tastete freudig danach.
»Es fehlt ihm nichts«, begütigte Loren sie und reichte ihr das Kind. »Er hat bloß Angst wie wir alle.«
Lolo schluchzte immer noch, diesmal vor Dankbarkeit, und nahm ihr Kind entgegen. Loren tätschelte ihre Schulter. »Sie sind immer noch so nahe am Feuer.
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