Alles Gold Der Erde
Marny ihre Näharbeiten wieder zur Hand und wartete derweilen auf Dwight. Kurz vor Mittag traf er ein, herzlich und glücklich, mit vom Nebel geröteten Wangen. Er zog seine Handschuhe aus und begrüßte Marny.
»Wollen wir gehen? Sie werden überrascht sein, wieviel die Leute heute morgen schon geschafft haben.«
Marny erklärte ihr Einverständnis, fragte jedoch, ob er etwas dagegen einzuwenden habe, wenn sie zuerst Kendra besuchte, damit sie sich nach Loren erkundigen könne. Sie wolle bloß ein paar Minuten dort bleiben, dann könnten sie zur Plaza gehen.
»Gewiß, gewiß«, versicherte Dwight, »ganz wie Sie wollen. Loren tut mir so leid. Ich habe von seiner Verletzung gehört, aber ich wußte nicht, daß es ihm jetzt schlechtgeht. Ich hoffe, daß Foxy übertrieben hat.«
Die beiden gingen den Berg hoch. Vor Kendras Haus griff Marny ängstlich nach Dwights Handgelenk. Der Nebel war kalt, hier oben aber war ihr, als sei sie in einen noch kälteren Schatten getreten. Das Haus sah wie abgeschlossen aus: düster, unzugänglich. Die Jalousien an der Vorderfront waren heruntergelassen. So wirkten Stätten des Unheils.
Marny dachte daran, wie sie dieses Haus noch vor kurzem gesehen hatte. Damals hatten die Scheite im Kamin und die Kerzen strahlendes Licht verbreitet. Sie dachte an das Weihnachtsessen. Sie dachte an Kendras Klavierspiel und Hirams frohen Gesang … Und das war erst vor einer Woche gewesen! Plötzlich wünschte sie, allein ins Haus zu treten.
»Dwight, je weniger Leute bei einem Kranken sind, um so weniger Geräusch stört ihn. Können Sie nicht woanders auf mich warten? Vielleicht gehen Sie in die Buchhandlung und lesen die Zeitungen, die der Dampfer gestern mitgebracht hat, ja?«
Carson wollte sie in jeder Weise zufriedenstellen. Außerdem war er ja auch kein enger Freund Lorens. Er war nur mitgekommen, weil Marny seine Begleitung gewünscht hatte. »Aber natürlich«, erwiderte er. »Ich lese gern die Zeitungen. Und ich hole Sie dann wieder ab – wann etwa?«
»In einer halben Stunde.«
»Vielen Dank.« Marny lächelte ihn an, ging die Treppe hinauf und klopfte. Nach einer Weile klopfte sie ein zweites Mal. Die Stimme von Mrs. Chase rief von innen:
»Wer ist da, bitte?«
»Ich bin's, Marny.«
»Ach so«, antwortete Mrs. Chase und öffnete die Tür. »Treten Sie ein. Kendra ist nicht imstande, jemanden zu sehen, aber mit Ihnen ist es etwas anderes. Ich glaube, sie wird Sie gern sehen wollen.«
Marny ging hinein und schloß die Tür hinter sich. Die beiden Frauen standen in dem düsteren engen Flur. Vor ihnen führte die Treppe zu dem Raum hinauf, in dem Loren lag. Die Türen im Parterre waren, mit Ausnahme der zum Salon, alle geschlossen. Selbst im Halbdunkel konnte Marny sehen, daß Mrs. Chases freundliches Gesicht von Kummer und Mitleid gezeichnet war. Mit leiser Stimme fragte Marny:
»Ich wollte mich nach Loren erkundigen, Mrs. Chase.«
Mrs. Chase schüttelte trübe den Kopf. »Der Doktor tut, was er kann.« Auch sie sprach leise. »Aber es scheint, daß der Nagel etwas in seinem Inneren zerstört hat. Ich weiß auch nicht genug, um Näheres sagen zu können.«
»Dann stimmt es also, daß Loren – daß Loren sehr krank ist?«
Mr. Chase nickte. Sie preßte ihre Lippen zusammen, als wolle sie ein Schluchzen zurückhalten. Dieses tiefe Mitgefühl überraschte Marny. Sie hatte gewußt, daß Mr. Chase und seine Frau Loren schätzten; aber sie hatte nicht gewußt, daß Mrs. Chase sich so um ihn sorgte.
»Und wie geht es Kendra?«
»Sie benimmt sich tapfer«, erwiderte Mrs. Chase. »Tapferer als alle, die ich früher … Aber es ist zu viel für sie, Marny, viel zuviel. Sie ist jetzt schon ganz erledigt. Ein Schlag folgt auf den andern.«
Marny fuhr zusammen.
»Was meinen Sie damit? Ist denn außer Lorens Krankheit noch etwas passiert?«
Mrs. Chase starrte sie lange an. Ihr Kinn zitterte, als versuche sie zu sprechen und es gelänge ihr nicht. Dann nickte sie wieder stumm.
Marny legte ihre Hand fest um den molligen Ellbogen der Mrs. Chase.
»Was ist es denn? Warum sehen Sie mich so an? Mrs. Chase, was ist geschehen?«
Jetzt zitterte auch sie, während sie auf eine Antwort wartete. Mrs. Chase befeuchtete ihre Lippen. Tränen traten in ihre Augen. Endlich brachte sie ein paar Worte heraus:
»Marny, ich glaube, ich muß es Ihnen sagen …«
Sie griff nach Marnys Händen und klammerte sich an ihnen fest. Nun, da sie reden konnte, ergoß sich ihr Wortschwall wie eine
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