Alles Gold Der Erde
den Zehenspitzen stehend kaum erreichen konnte, entdeckte sie eine Flasche mit Zitronensaft, was sie auf die Idee brachte, eine Zitronentorte zu backen.
Die Hintertür war verriegelt. Kendra stellte ihren Korb auf ein Faß und angelte nach der Flasche. Wie still es hier drinnen war und wie laut draußen. Sie hörte hinter sich die Jungen plappern. Von der Straße hörte sie das Getrappel von Pferdehufen, Hammerschlägen und Brettergeknalle. Ein neuer Saloon wurde nebenan gebaut. Als sie die Flasche in ihren Korb legte, hörte sie noch einen andern Laut von jenseits der Hintertür.
Sie zuckte zusammen und lauschte. Ihr Herz fing fast so laut zu schlagen an wie die Hufe auf der Straße. Was sie hörte, war ein gepfiffenes Liedchen. Sie vernahm nur Bruchstücke, aber es war eine Melodie, die sie überall sogleich erkannt haben würde.
Das Pfeifen kam näher. ›Die Liebe ist eine Libelle …‹
Der Ball und die grellen Lichter und die überfüllten Flure. Teds Arm, der sie umschlang, als die Kapelle das Lied von der Libelle gespielt und er geflüstert hatte:
»Wie schön Sie sind … Jede Frau ist so schön, wie ein Mann sie sieht …«
Sei keine Närrin, Kendra! ermahnte sie sich. Jeder kann dieses Liedchen pfeifen, jeder, jeder …
Schon aber schoben ihre Hände den Riegel zurück. Die Tür flog auf. Und da war Ted. In diesem Moment – als ob ihre Augen ihn gerufen hätten – blickte er auf und in ihr Gesicht.
Ted war gebräunt, als habe er an einem Ort gelebt, wo die Sonne häufiger schien als in San Francisco. Er sah überhaupt ganz anders aus. Früher war er immer so ordentlich gewesen, jetzt aber machte er einen verwahrlosten Eindruck. Sein Anzug war durchgescheuert, und seine Stiefel hatten Löcher. Doch wie er dastand und sie sehnsüchtig anschaute, war ihr, als habe er sich gar nicht verändert. Dann wandte er den Kopf zur Seite, als müsse er sich von ihrem Anblick losreißen. Endlich aber kam er langsam und fast unwillig die Treppe herauf.
Kendra bebte vor Glück. Ted war wieder da! Und diesmal würde sie ihn nicht wieder gehenlassen. Nicht ohne sie!
Als Ted oben angelangt war, stieß er sie in den Raum und schloß die Tür. Beide sprachen kein Wort. Sie fielen einander in die Arme. Das war der Kuß, vor dem Ted davongelaufen war: der Kuß, den sie an jenem wolkenverhangenen Tag vor knapp einem Monat hatten tauschen wollen – Kendra meinte, hundert Jahre wären inzwischen vergangen. Die Freude überwältigte sie. Aber auch heute schob Ted sie gleich wieder von sich und fragte:
»Weshalb, zum Teufel, kannst du nicht aus meinem Leben verschwinden?«
»Weil ich dich liebe.«
Diese Worte überraschten sie nicht im mindestens. Sie klangen so natürlich, als sei es ihr Vorsatz gewesen, sie auszusprechen.
Ted schlug mit seinen Fäusten gegen die Tür. »Ich liebe dich ja auch. Ich wollte es nicht. Und ich habe nie davon geträumt …« Er brach ab. »Ich hatte nicht die Absicht, dich heute morgen zu sehen.«
»Was machst du dann hier?«
»Ich will meine Sachen holen.«
»Warum hast du das Liedchen von der Libelle gepfiffen?«
»Habe ich das getan? Ich weiß es gar nicht.«
»Du hast an mich gedacht«, behauptete Kendra.
»Ich habe an nichts anderes gedacht, seit …« Er verstummte und lauschte auf die Stimmen im Laden. »Wir können uns hier nicht unterhalten.«
Kendra sprach schnell:
»Wir können uns morgen nachmittag unterhalten. Im Comet House wird wieder ein Ball gegeben. Meine Mutter will mit Mrs. Chase hingehen, um die Dekorationen anzubringen. Sobald sie fort ist, kannst du mich besuchen.«
»Kendra, das alles ist falsch.«
»Wirst du mich morgen besuchen?«
»Ja, ich werde kommen.«
Dann riß er die Tür auf und stürzte die Treppe hinab.
Kendra blieb, wo sie war. Jetzt würde er sie nicht ein zweites Mal sitzenlassen. Ihre Gedanken waren ganz klar. Es verlangte sie nach Ted. Sie hatte nicht gewußt, wie sehr es sie nach ihm verlangte, bis sie ihn vorhin auf dieser Hintertreppe gesehen hatte.
Sie fing zu lachen an. Man schrieb das Jahr 1848, ein Schaltjahr, und sie entsann sich des alten Sprichworts: Eine Frau kann in einem Schaltjahr einen Heiratsantrag machen, und wenn ihr Liebhaber ihn zurückweist, muß er ihr ein Seidenkleid schenken.
Kendra wollte kein Seidenkleid. Sie hatte schon mehrere. Aber sie wollte Ted, und sie würde ihn auch bekommen.
8
»Los, sprich!« beharrte Kendra. »Warum bist du abgehauen?«
»Das weißt du doch. Um von dir
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