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Alles hat seine Zeit

Titel: Alles hat seine Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ennio Flaiano
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nieder, und noch einmal gingen meine Gedanken zu Mariam, beinahe sanft; ich entsann mich an ihren verschwiegenen Schlaf und an das zarte Gewicht ihrer Glieder. Ich dachte daran, bis Johannes zu mir kam. Er kam langsam daher, und sicherlich überlegte er sich bereits, was er zu mir sagen solle; doch als er wenige Schritte von der Hütte entfernt war, hielt er inne, und dann ging er zum Rand der Lichtung.

    Nachdem er eine Weile das Tal betrachtet hatte, machte er kehrt und setzte sich auf den Grabhügel; dann aber sagte er unvermittelt:«Wo bist du gewesen?»
    Ich antwortete nicht einmal. Ich sah ihn verärgert an, um ihm begreiflich zu machen, dass ich ihm keine Erklärungen irgendwelcher Art schuldig sei, und wenn ich so schwach gewesen war, ihm am ersten Tag welche zu geben, so wollte ich jetzt seine Neugier zurückweisen. Ich konnte auch sofort weggehen, ich war wieder zu Kräften gekommen, und er sollte sich nur nichts herausnehmen.
    Johannes beharrte nicht darauf, und mit schlaksigen Schritten kehrte er zu seiner Tätigkeit zurück. Jetzt arbeitete er mit ungewöhnlicher Kraft; er hob den Arm in die Höhe und traf genau, ohne verträumt die Dinge auf der Lichtung zu betrachten. Gewiss hatte ihn meine stumme Antwort verwirrt, und nun machte er seinem Zorn auf diese Weise Luft. Nach einer Weile war er müde und ruhte sich aus; und leise, diesmal ohne mich anzublicken, wiederholte er die Frage.
    «Johannes, das ist etwas, das dich nichts angeht», sagte ich höflich, obschon diese Lüge mich zum Lächeln zwang. Doch ich konnte ihm nicht sagen, dass ich beim Grab jener Person gewesen war, die«wiederkommen würde»und auf die er
wartete. Denn wenn er meine Anwesenheit im Dorf so schlecht ertrug, dann vor allem deshalb, weil er, vermutlich, auf Mariams Rückkehr wartete.
    Johannes schien von meiner Antwort befriedigt zu sein und fuhr fort zu arbeiten, doch wie gewöhnlich, indem er müde die Pfähle zurechtschnitt, dabei umherschaute, sich mit dem Maultier abgab und ihm die üblichen Worte zuschrie. Erst viele Tage später sollte ich die Hinterhältigkeit seiner Frage erkennen. Nun aber lächelte ich, als ich Johannes sich in seiner nicht endenden Arbeit verlieren sah. Da ich gerade im Tornister herumwühlte, nahm ich die Bibel heraus und fing aufs Geratewohl an, darin zu lesen. Ich las eine Seite Sprüche sowie zwei Seiten Prediger, und dann noch einmal ein paar Seiten Sprüche. Beim Lesen wurde ich gewahr, dass diese Bibelverse dort unten Leben annahmen, im Einklang standen mit den Dingen, die mich umgaben: bei diesen Hütten, in dieser kargen Natur; und bei Johannes, dem Propheten ohne Volk, dem die Wahrheit dieser Sinnsprüche, ohne dass er einen kannte, in Fleisch und Blut übergegangen war. Johannes war ein Weiser und wusste nicht, dass er einer war. Er hatte die Welt von sich verbannt und lebte neben seinen Toten, und beim Hereinbrechen des Abends geriet er nicht in Bestürzung,
sondern im Gegenteil, er wartete auf seine Schatten, die andere, geliebtere Schatten wieder zu ihm brachten.
    Darin lag seine Kraft, die Kraft, bei seinen Toten zu wohnen und die letzten Tage mit ihnen zu leben. Er auferlegte es sich nicht wie eine Buße, um sich ein Paradies zu gewinnen, sondern um sich in guter Gesellschaft zu fühlen. Es war ihm unsinnig erschienen, das Dorf der Menschen zu berauben, die es bewohnt hatten und mit denen er frohere Tage verbracht hatte. Seine Erinnerungen lagen in der Lichtung bewahrt; und am Morgen beim Erwachen galt sein erster Blick dem Grabhügel. Im Laufe des Tages legte er die heruntergerollten Steine wieder darauf und kümmerte sich nicht darum, wenn das Maultier hernach hinging, um sie wieder herunterzustoßen. Er war kein Wärter.
    Ich dachte, dass ich diese seine Kraft verloren hatte und sie auch nicht zurückgewinnen konnte; und ich dachte an die öden Friedhöfe unserer Städte, wo wir jene begraben, die noch einen Tag zuvor dieselben Augen hatten wie wir, dasselbe Lächeln wie wir; und so rasch begraben wir sie, dass wir sie dann für immer als Fremde empfinden, als eine arme vergängliche Materie. Johannes erhob sich von seinem Lager, und obwohl ich ihn nie in betender Haltung gesehen hatte, betete er
doch für seine Toten. Das Gemurmel, das ich in der Morgenfrühe aus seiner Hütte dringen hörte, waren Gebete. Oft setzte er sich auf den Grabhügel und fuhr dort fort, seine Pfähle zu spitzen, ohne Ende.
    Ich wagte nicht, mir Johannes’ letzte Tage in diesem verlassenen Dorf

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