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Alles hat seine Zeit

Titel: Alles hat seine Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ennio Flaiano
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sicherlich die Wirkung dieses freien Lebens, das es jetzt führen durfte. Es war nicht mehr das todgeweihte Tier, dem ich vor einundzwanzig Tagen auf dem Pfad begegnet war. Ich sah, dass es lebhafter und immerfort damit beschäftigt war, sich mit seinem
gelblichen Schweif die Flanken zu peitschen. Vor langer Zeit hatte ich ihm die Kette abgenommen; jetzt hielt es sogar den Hals hoch aufgerichtet, sein Fell begann zu glänzen, und seine Haut spannte sich, ganz im Gegensatz zu der meinen; ich fühlte, dass ich abmagerte. Es war ein seltsames Tier, und ich glaube, es betrachtete mich als einen Eindringling. Es war noch unnachsichtiger als Johannes, mit dem es mir mittlerweile gelungen war, ein Verhältnis von behutsamer Herzlichkeit herzustellen. Wenn er mit seinem Blechkanister zum Nebenfluss hinunterging, lief ihm das Maultier nach. Aber wenn Johannes gelegentlich wegging, ohne es zu verständigen (ich glaube, dass er es aus Eitelkeit tat), setzte sich das Tier ungeschickt in Trab und verschwand zwischen den Bäumen, den Fußstapfen seines Gastgebers folgend und taub für meine Rufe. Ich nehme an, diese vorbehaltlose Zuneigung rührte daher, dass Johannes ihm die Nahrung beschaffte.
    Wenn Johannes, wie es oft geschah, mit hartnäckigem Fleiß damit beschäftigt war, seine Pfähle zurechtzuschneiden - eine Arbeit, mit der er nie fertig wurde -, hörte das Maultier auf, die Rinde von den Bäumen abzukratzen, und ging hin, um zuzuschauen, bis seine Neugier allzu aufdringlich wurde und Johannes es mit dem üblichen Schlag auf die Kruppe davonjagte. Dennoch hatten sie
sich gern, und mehr als einmal hat mir eine unerklärliche Empfindung, der Eifersucht sehr ähnlich, den Aufenthalt dort unten vergällt. Einmal trieb das Maultier sein Misstrauen gegen mich so weit, dass es ein Stück Brot, das ich ihm hinhielt, ablehnte, aber gleich darauf glücklich war, von dem Alten geschlagen zu werden. Weil ich daraufhin meinte, sein Soldat habe es an diese Erziehung gewöhnt, versuchte auch ich eines Tages, das Tier zu schlagen, doch ich musste einsehen, dass ich leicht seiner Rache zum Opfer fallen konnte. Daher war ich erstaunt, als es am Nachmittag des einundzwanzigsten Tages zu mir kam, um sich an meiner Schulter zu scheuern, und sich neben der Hütte niederkauerte, während es sich um Johannes überhaupt nicht kümmerte, der Worte vor sich hin brummte, die dem Tier gewiss unverständlich waren.
    Ich war es müde, vom Rand der Lichtung ins Tal zu schauen. So beschloss ich an jenem Tag, mich bis zum Wildbach vorzuwagen, vielleicht sogar bis zur Abkürzung oder vielleicht auch bis zur Straße, um ein paar Lastwagen zu sehen, sie nur zu sehen. Ich winkte dem Maultier, dass es aufstehen solle, nahm meine Decke und band sie ihm auf die Kruppe; mit der Kette und dem Seil improvisierte ich die Zügel. Das Maultier ließ es geschehen; es nahm den Vorschlag zu einem Spaziergang
an und trug mich schließlich gehorsam. Ja, es schien sogar, als dränge es darauf, denn es lief rasch und blieb nur kurz stehen, um dann und wann ein Grasbüschel abzureißen, das weniger trocken war als die anderen.
    Als wir allerdings am Wildbach angelangt waren, hatte ich schon genug von diesem Spazierritt und begann dessen Gefahren zu sehen. Ich konnte weder dem Maultier noch meiner Sehnsucht nach den von Lastwagen befahrenen Straßen trauen. Ich stieg ab, und das Maultier stillte seinen Durst an einem Tümpel; es war derselbe, in dem Mariam sich damals gewaschen hatte.
    Jedes Mal, wenn meine Gedanken wieder zu Mariam gingen, musste ich auf meinen Lippen die Beschimpfung zurückdrängen, die der Groll in mir aufsteigen ließ. Eines Tages war ich so weit, dass ich mich freute, sie getötet und ihr dadurch das Schicksal der anderen Dorfbewohner erspart zu haben; jetzt warf ich mir sogar dieses nachträgliche Mitleid vor. Und doch hätte man sie gar nicht getötet, sagte ich mir, denn auch sie wäre an jenem Tag mit Elias und dem Alten aufs Hochland gegangen; denn der Alte hatte sich wohl nicht nur ins Städtchen begeben, um sie zu suchen. Er wäre sowieso hingegangen. Wenn er nur ihretwegen dorthin gegangen wäre, hätten die jungen Leute nicht gespielt und getanzt an
jenem Morgen, als sie im Buschwald vorüberkamen.«Nun», sagte ich mir,«schließen wir trotzdem die zweite Behauptung aus, und sagen wir einfach, dass ich mich freue, sie getötet zu haben. Sie hatte mich getötet; und ohne jenes verhängnisvolle - nein, im Gegenteil, sogar vorsorgliche Tier wäre

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