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Alles hat seine Zeit

Titel: Alles hat seine Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ennio Flaiano
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vorzustellen, nachdem ich aufgebrochen wäre. Er würde hungers sterben, wenn er nicht mehr imstande wäre, sich Nahrung zu verschaffen; und sein unbegrabener Körper würde dann den Ratten den Hunger stillen. Dieser Gedanke trieb mich dazu, meine Abreise zu beschleunigen, den Tag vorzuverschieben, den ich nun dafür bestimmt hatte. Ich wollte in fünf oder sechs Tagen gehen.«Armer Johannes», sagte ich. Aber vielleicht hatte Johannes das Alter des Todes schon überwunden.
    Ich wollte fortgehen. Ich war ein Eindringling inmitten dieser Leichen. Ich war, allenfalls, eine andersgeartete Leiche, denn ich sehnte mich noch nach dem Leben. Deshalb war das Dorf gegen mich, wie übrigens das ganze Tal. Auch jene Bibelverse, die ich las, waren gegen mich; sie klagten mich an mit der Eindringlichkeit und Grausamkeit der einfachen Worte, die unversehens ihre Bedeutung wiedergewinnen. Ich war ein Mörder, ein Dieb, ein Kranker, ein vom göttlichen Zorn geschlagener Mann. Und immer noch jagte ich
den eitlen Dingen nach. Ich war aber auch ein Flüchtling und, für Johannes, ein Feind. Deshalb schwieg Johannes und benahm sich so unverschämt. Er wartete darauf, dass ich diesen Ort verließe, dass ich endlich einmal merke, wie sehr meine Anwesenheit alle beleidigte, ihn, die Bäume, die Hütten, die Toten. Wenn ich noch lange bliebe, würde irgendetwas aus der Tiefe seiner Natur ihn zu der Tat treiben, die er selbst fürchtete: mir die Kehle durchzuschneiden, und zwar mit demselben Messer, das er gebrauchte, um die Pfähle zu spitzen und das Unkraut zu schneiden. Für einen einzigen Augenblick würde er den mir gebührenden Respekt, das Wort und Vorbild seiner verehrten Offiziere vergessen und mir die Gurgel durchschneiden, vielleicht den Kopf nach Osten gewandt, zum Grabhügel des Dorfes. Ich würde seine Hand kaum spüren auf meinem Hals, diese Hand wie aus vom Rost zerfressenen Eisen. Es wäre vergeblich, ihm zu erklären, dass ich leben müsse, um zu«ihr»zurückzukehren, um noch einmal ihr von Tränen überströmtes Lächeln zu sehen. Johannes würde sich nicht von einer so persönlichen Ausrede verführen lassen.
    «Gut», fügte ich hinzu,«soll er mir die Kehle durchschneiden. All mein Unglück wird mit einem einzigen Schlag ausgelöscht sein. Aber ist es möglich, dass Johannes, wenn er beschlossen hat,
sich zu rächen, es nicht mit kunstvoller List tun wird, wie diese Natur, die ihn umgibt, es ihm rät? Und warum nicht annehmen, dass Johannes unfähig sei zum Bösen, dass er ein einsiedlerischer Heiliger sei, dem die italienische Regierung nicht umsonst seine kleine Pension gibt?»
    Er setzte sich vor mich hin auf die Fersen, und mit beinahe liebevoller Stimme wiederholte er:«Wo bist du gewesen?»
    Der Zorn stieg in mir hoch.«Johannes», sagte ich bebend,«vergiss nicht, wer ich bin.»Da erhob er sich langsam und deutete mit der Hand einen kurzen militärischen Gruß an.

8
    Es gab zu viele Vögel in den Bäumen, die rings um die Hütte standen. Ihr unaufhörliches Gekrächze hinderte mich sogar daran, zu erwachen, und stürzte mich immer wieder in einen qualvollen Halbschlaf, aus dem ich erschöpft zu mir kam. Es waren hässliche Vögel von düsterer Farbe, ähnlich wie Raben, nur behender und weniger traurig, ja, sie waren sogar zu Geselligkeit aufgelegt. Oft flogen sie in die Hütte herein, und zuweilen musste ich sie mit Stockschlägen verjagen. Um mein Geschrei kümmerten sie sich wenig. Gewiss, dies
war ein Nachteil, doch in jeder anderen Hinsicht war dies die beste Hütte. Nachts wehte hier sogar ein frisches Lüftchen. Immerhin leisteten mir diese hässlichen Vögel im Grunde genommen gute Gesellschaft. Wenn die Verzweiflung mich überkam und ich, auf dem Fußboden liegend, dem Schluchzen freien Lauf ließ, das meine Qual erleichterte, erschienen sie plötzlich in kleinen Grüppchen auf der Türschwelle und sahen mich schief an wie Hühner. Sie kamen nah heran, und gern hätte ich mich für ihre Freundlichkeit empfänglich gezeigt, wenn mich nicht dieser Wildgestank, der von ihnen ausging, immer wieder gezwungen hätte, darauf zu verzichten. Ich musste sie verscheuchen und den Tornister zugeschnürt lassen, denn sie stahlen gern.
    Ich fragte mich, ob dies die Ergebung sei, dieses leere Warten, während man die Tage zählt wie die Perlen eines Rosenkranzes und weiß, dass sie uns nicht gehören; und doch sind es Tage, die wir leben müssen, weil sie uns besser zu sein scheinen als das Nichts.
    Wenn ich zur Decke

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