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Alles hat seine Zeit

Titel: Alles hat seine Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ennio Flaiano
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einer Klinik hinter der Tür des Operationssaales gehört hatte. Es war eine wilde Wehklage, die Auflehnung, die wir für die letzte Stunde bereithalten, wenn diese allzu früh kommt und uns überrascht. Es war vor allem die Wehklage dessen, der es nicht glauben will.
    Ich stand neben ihr und machte mir vor, nicht zu begreifen, aber ich hatte begriffen. Ich war es gewesen. Die Hand, die schießt, weiß, ob sie trifft,
und meine Rechte zitterte. Als die Frau ihre Hand vom Bauch wegzog, sah ich, dass sie von Blut glänzte. Ich hatte sie getroffen, die Kugel war abgeprallt, vielleicht an einem Stein, denn selbst in der Verwirrung des Sturzes konnte ich nicht die Orientierung verloren haben. Ich hatte mit den beiden ersten Schüssen getroffen und dann versucht, den dritten tief zu schießen, eben gerade um keinen Fehler zu machen, denn durch den Rückstoß der Pistole hebt man unwillkürlich den Arm. Ich hatte tief geschossen, es gibt also keine andere Erklärung: ein Stein. So dick das Fell des Tieres auch gewesen sein mochte, so hätte es den Schuss doch nicht in eine andere Richtung zu lenken vermocht.
    Ein Stein also; aber denken wir nicht mehr daran, einer von diesen verfluchten Steinen, die allenfalls einen Skorpion verbergen.
    Jetzt aber lag die Frau auf dem Bauch und stöhnte. Dieser Körper, den ich kurz zuvor bewacht hatte, krümmte sich jetzt im krampfhaften Schmerz einer Verwundung, die umso schrecklicher war, als man sie nicht erklären konnte; auch war es schmerzlich, ihr nicht verständlich machen zu können, dass es sich um einen grausamen Unfall handelte. Als ich probierte, sie aufzurichten und ihr meinen Tornister unter den Kopf zu schieben, sah sie mich an, wie sie mich immer angesehen
hatte mit ihren halbgeschlossenen Augen, und suchte zu verstehen. Ich war es nicht gewesen; dies glaubte sie. Irgendjemand hatte geschossen, aber nicht ich; es war nicht möglich, dass ich es war. Ich war entsetzt, ich streichelte ihre Stirn, damit sie mich nicht als feindlich empfinden sollte. Ein kalter Schweiß bedeckte ihr Antlitz. Ihre Hand, mit der Uhr geschmückt, tastete noch einmal zu ihrem Bauch, aber sie zog sie zurück, voll von warmem Blut. Die Tunika war schon durchtränkt davon, und auf dem Sand bildete sich eine dunkle Lache.
    Sie fuhr fort zu stöhnen, jedoch leiser, voller Scham, um mich nicht noch mehr zu erschrecken. Dann und wann öffnete sie die Augen, und einmal lächelte sie mir sogar zu; für ein paar Augenblicke blieben in ihren Mundwinkeln die Fältchen jenes Lächelns haften, das mich beruhigen wollte, das heldenhafte Lächeln der Frau, die der Geburt entgegensieht, und das sogleich vergeht, weil etwas Unsichtbares es vom Bauch nach unten zieht.
    Noch einmal schürte ich das Feuer. In mir begann an die Stelle des Entsetzens die Wut zu treten. Ich war auf mich selbst wütend; ich beschuldigte mich vorbehaltlos, dass ich dumm gewesen sei, mich so von der Angst unterkriegen zu lassen. Jetzt überlegte ich, wenn ich nur einen Stein geschleudert hätte, wäre das Tier geflüchtet. Stattdessen
aber hatte der Stein eine andere Rolle gespielt in dieser unglückseligen Komödie. Ich war wahrhaftig wütend.
    In diesem Augenblick war von ferne wieder der Schrei des Tieres zu vernehmen, das ich tödlich verwundet hatte. Es brüllte und keuchte, lange Zeit, dann und wann beruhigte es sich, fing aber nach der Stille, erschreckt von der Nacht, mit umso größerer Kraft wieder an; auch das Tier lag angsterfüllt im Sterben. Doch ich war weit weg und fürchtete nicht, dass es zurückkäme, um sich zu rächen.
    Ich war wirklich wütend, aber schon schlich eine Frage sich ein und brachte mich in Verwirrung: Was sollte ich tun? Die Angst hatte mir diese Frage eingeflüstert, die Angst und das Verlangen - das ich mir nicht eingestehen wollte -, so rasch wie möglich aus dieser verwickelten Lage herauszukommen. Ich musste der Frau beistehen, daran bestand kein Zweifel. Aber wie? Was tut man, wenn eine Frau stirbt, und man ist verloren mit ihr in der dunkelsten Nacht des Jahres, unter feindlichen Schatten, in einem Land, das einem längst schon die Nerven aufgerieben hat und das man aus ganzer Seele hasst? Ich dachte, ich müsste fortgehen und sie im Stich lassen.
    Dieser Gedanke nahm plötzlich Gestalt an, obwohl er allmählich gereift war schon seit dem
Augenblick, als ich zu ihr hingelaufen und mir bewusst geworden war, dass ich sie verwundet hatte. Ich versuchte den Gedanken abzuweisen, doch ich fühlte ihn mit

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