Alles hat seine Zeit
unschlagbaren Argumenten immer wieder kommen. Um ihn zu verscheuchen, entschloss ich mich, der Frau auf irgendeine Weise zu helfen, irgendetwas zu tun, die Wunde zu tamponieren. Aber dies war gewiss ein unsinniger Einfall. Ich bin zwar kein Arzt, doch ich begriff gleichwohl, dass bei dieser Wunde nichts zu machen war. Da die Frau unfähig war, sich zu bewegen, schloss ich daraus, dass die Kugel ihr tiefe innere Verletzungen zugefügt hatte.
Mit unendlicher Vorsicht legte ich sie auf den Rücken. Sie ließ mich gewähren. Ich schob die Tunika hoch, bis ihr Bauch entblößt war, und was ich sah, nahm mir allen Mut. Das Blut hatte schon den ganzen Bauch befleckt, und an einer Stelle quoll es leuchtend hell und dick hervor. Ich nahm ein Taschentuch, tauchte es in Wasser und reinigte zuerst einmal die Wunde. Ich tat es ganz behutsam, doch unter meinen Fingern spürte ich das kleine Loch und das langsame und unerbittliche Fließen des Blutes, das ringsherum allmählich gerann. Ich nahm ein zweites Taschentuch und hielt es fest auf die Wunde, bis ich es feucht werden spürte. Dann zog ich die Tunika wieder darüber. Ihre Beine glänzten, aber sie waren kalt.
Die Frau hatte, ohne zu stöhnen, mein Tun verfolgt, vielleicht gab eine große Hoffnung ihr Trost. Vielleicht hatte sie von Wundern reden hören, die von den«Herren»vollbracht wurden, vom geheimnisvollen Zusammennähen, auf das sie sich verstehen, von Arzneien, die so mächtig sind, dass keine Krankheit ihnen widersteht. Sie hob den Kopf und sah mich an. Ich hatte nicht die Kraft, ihr zuzulächeln, und dies war nicht die geringste all meiner Feigheiten. Sie hatte verstanden. Sie legte den Kopf wieder hin und fing von neuem an zu stöhnen, ganz leise. Dann wandte sie sich um und sagte: «Mai . »
Mai? Erst nach einigen Sekunden, als sie das Wort wiederholt hatte und dabei die Feldflasche ansah, begriff ich, dass sie trinken wollte. Ich feuchtete ihr die Lippen an, aber sie wollte wirklich trinken, gierig. Ich ließ sie trinken. Und als sie die Augen schloss, hoffte ich, dass es das Ende sei. Aber sie atmete, beinahe ruhig, während der Sand die bräunliche Lache aufsog.
Ein heller Schimmer jenseits des Flusses kündigte die Morgendämmerung an. Die letzten Geräusche verloren sich, die Bäume kamen wieder zum Vorschein, und ich ahnte, wenn auch noch undeutlich, dort oben den Rand des Hochlands, ein düsterer Fleck gegen den Himmel, der gerade eben verblasste. Jetzt verwandelte sich das angstvolle
Verlangen, diesen Ort schleunigst zu verlassen, in wahre Aufregung. Ich fing an, neben dem Feuer hin und her zu gehen, während ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Was sollte ich tun?
Es war vieles zu tun, doch alles war verfänglich (ich erinnere mich, dass ich dies dachte). Ich konnte zum Dorf laufen, das die Frau mir gezeigt hatte: Aber war dort überhaupt ein Dorf und nicht nur ihre Hütte? Da sollte sich einer auskennen bei diesen Eingeborenen. Die ganze Gegend ist voll von verlassenen Klöstern, in denen hundert oder mehr Kilometer voneinander entfernt Mönche leben oder auch Menschen, die (was weiß ich?) vielleicht nur die Einsamkeit suchen. Ich hatte nie etwas von Dörfern gehört in der Niederung und in diesem Tal, wo das Leben schwierig ist. Vielleicht lebte die Frau allein, war eine Witwe, die Buße tat, und daher dies kurz geschnittene Haar, das sie unter dem Turban verborgen hielt. Und selbst wenn ich das Dorf gefunden hätte, was hätte ich damit erreicht? Würden sie eine Bauchoperation an ihr vornehmen, diese Leute, die nicht einmal wissen, wie man einen Kratzer behandelt, und Wunden, so groß wie Taschentücher, mit sich herumschleppen?
Ich hätte jemanden zur Brücke schicken können, damit er Hilfe hole, und nach vier Stunden
wäre dann der Sanitäter mit seinem Arzneikasten gekommen, sofern der Zufall es gewollt hätte, dass sich bei der Baustelle gerade ein Sanitäter mit außergewöhnlichem Mut aufhielt. Und dann sein Kasten! Bittersalz, Chinin, Aspirin, Cognac (leere Flasche), Gaze, Watte, zwei Fingerhut Alkohol und die Fotografie der Braut auf dem Deckel.
Wir konnten die Frau gewiss nicht hinuntertragen, um sie während des Abstiegs verbluten und sterben zu sehen, vorausgesetzt dass ich das Dorf und hilfsbereite Eingeborene überhaupt gefunden hätte. Unten angelangt, würden wir auf den Doktor warten, der um acht eintreffen sollte mit der Post und den Lebensmitteln; er würde nur einen kurzen Blick auf die Frau von so einem dummen Kerl
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