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Alles hat seine Zeit

Titel: Alles hat seine Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ennio Flaiano
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zu mir und sagte ein paar Worte, aber ich verstand sie nicht; nun machte sie sich daran, ein Grammophon aufzuziehen, mit einer Vorsicht, die von Stolz erfüllt war, denn dies war ein Wunder, das sich zu ihrem Vergnügen jedes Mal wiederholte. Ich konnte die Augen nicht von ihr abwenden, und ich vermied es, mir den Grund dafür einzugestehen. Als sie fertig war, legte sie einen Militärmarsch auf; dann, aufs Geratewohl, eine andere Platte, es war das Lied, das«sie»manchmal im Badezimmer geträllert hatte.«Vielleicht täte ich gut daran, ihr zu schreiben», dachte ich.
    Das Mädchen kam nochmals und redete mit mir; ich lächelte sie an und tat, als ob ich verstünde, aber ich sah sie kaum, und nur das plötzliche Schimmern ihrer Zähne sagte mir, dass dieses verschwommene Bild lebte. Stattdessen sah ich den Suezkanal bei Sonnenuntergang und jenen Soldaten, der in den Mastkorb geklettert war und verzweifelt zur Wüste hin sang und dem wir alle zuhörten, weil er uns rührte und zugleich zum Lachen brachte (ich hatte noch«ihre»Blumen in der Kabine, einige würde ich zwischen den Seiten eines Buches aufbewahren). Das Schiff fuhr so lautlos, dass es fast schien, als würde es von der Stimme des Soldaten geschoben.
    Es war nicht möglich wegzugehen. Jetzt tranken
die beiden Mädchen, verwundert darüber, dass wir ablehnten, und schon begannen Verwandte und Nachbarn mit ihren kleinen Kindern ins Zimmer hereinzukommen, von der außergewöhnlichen Freigebigkeit des Leutnants angelockt, der jemanden geschickt hatte, um noch mehr Bier zu holen. Dieses so sanfte und sentimentale Lied, das mich, wäre ich woanders gewesen, zum Lächeln gebracht hätte, ich musste es«ihretwegen»und jenes Soldaten wegen hinnehmen, der dort hinaufgeklettert war und vor Schwermut in die Wüste hinausgeschrien hatte. Nachdem wir Suez hinter uns hatten, mussten dann all die Monate der Trennung mit dem Taschenmesser in den Gürtel eingeritzt werden. Und bei der Rückkehr würde die geliebte Frau neue Lieder singen und über verwundene Gefühle lächeln.
    «Bleiben wir lange hier?», fragte ich den Leutnant.
    Er lag noch immer ausgestreckt auf dem Bett, dieser sonderbare Freund, ohne die ehrerbietige Schar von Frauen zu beachten, die lächelnd dem Grammophon zuhörten und womöglich überzeugt waren, uns zu schmeicheln.«Langweilst du dich?», erwiderte er und fing an, mit den Frauen zu reden. Jetzt war das Zimmer voll. Es waren ältere Frauen, schwerfällig und welk, doch sie waren fröhlich, denn sie lachten bei jedem Wort
meines Freundes. Was die beiden Mädchen betraf, so zeigten sie überhaupt keine Eile, ihren Handel abzuschließen; sie schienen sich mehr als alle anderen zu amüsieren und waren selig darüber, dass ihre kleine Behausung der Schauplatz eines richtigen Festes war. Als ich mich umschaute, sah ich, dass es außer diesem noch ein anderes Zimmer gab. Flüchtig erblickte ich darin das Bett und im Hintergrund die Tür, die auf einen Hof führte. Die Kinder begannen miteinander zu spielen, liefen einander durch das ganze Zimmer nach und warfen die Hocker um: Niemand machte ihnen Vorwürfe.
    Wer hatte wohl den beiden Mädchen das Grammophon überlassen? Ihr ganzer Stolz konzentrierte sich auf diesen Besitz; sie hatten es auf einen Blumenständer gestellt, und wenn sie die Platten wechselten, mussten sie auf einen Schemel steigen. So wurde ich von sehnsuchtsvollen Stimmen berieselt, und zu meiner Schwermut kam noch der Verdruss über unnütze Erinnerungen. Die Petroleumlampe wurde angezündet, und dunkle Schatten entstanden in den Zimmerecken, während die Frauen (wie viele waren es? Ich versuchte sie zu zählen, doch immer musste ich wieder von vorn anfangen, vielleicht waren es neun, vielleicht zehn) schwatzend herumsaßen und warteten, dass der Kaffee kochte.

    Wie hatten die Jahre sie dumpf und unansehnlich gemacht! In ihren Augen konnte man nichts lesen, außer vielleicht die Langeweile des Verfalls. Die Zeit hatte ihnen eine endgültige Niederlage bereitet.«Noch zwei oder drei Tage», dachte ich,«und dann kehre ich ins Lager zurück. In drei Tagen kann man vieles tun - zwar nicht alles, was ich mir vorgenommen hatte, ehe ich fortging, doch man wird wieder beweglicher, man rasiert sich, geht spazieren, versucht jenes Buch zu lesen, das der Leutnant unter dem Kopfkissen aufbewahrt. Wer weiß, was für eine Art Literatur es ist (wahrscheinlich makaber, denn ein Typ wie er findet an makabren Geschichten Geschmack, er maskiert seine

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