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Alles hat seine Zeit

Titel: Alles hat seine Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ennio Flaiano
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Erinnerungen aufzuspüren. Und ich schämte mich deswegen.
    Als das Licht wieder anging, war ich niedergedrückt, weil ich von neuem allein war. Wenn es einen Grund gab, der mich zur Rückkehr ins Lager bewegen konnte, dann nur ihre Antwort auf meinen Brief. Dort, im Zelt des Postboten, wartete sie auf mich, und unterdessen vertat ich hier meine Zeit. Ich erwartete von diesem Brief so etwas wie einen Freispruch, einen ganz einfachen Satz, der mich von der Angst erlöste. Vielleicht
hatte sie verstanden, obwohl ich in meinem Brief auf nichts angespielt, sondern nur immer wiederholt hatte, wie sehr ich sie brauchte und dass mir der ruhige Atem der langen Abende am Kaminfeuer fehle und ebenso ihre unvermuteten Antworten. Ich musste also doch ins Lager zurückkehren, mich an den Abstieg machen zum Fluss hinunter, den Weg in jene Gegend wieder aufnehmen, vor der ich mich fürchtete.
    Nachdem ich nun acht Tage in dieser Stadt zugebracht hatte, beschloss ich, entsetzt über meine Trägheit, etwas zu tun. Jedenfalls musste ich mir den Zahn ziehen lassen, obschon er mir jetzt nicht mehr weh tat. Aber wenn ich auch noch mit dem Zahn zurückkehrte, wäre meine Reise geradezu eine Beleidigung für die Freunde gewesen, die im Lager geblieben waren.
    Als der Zahnarzt mir diesen verfluchten Backenzahn in der Zange zeigte, atmete ich auf.«Sie essen zu viele Süßigkeiten», sagte er scherzend zu mir.«Ja», dachte ich,«zu viele Süßigkeiten in ihren Paketen. Ich müsste ihr schreiben, dass sie mehr Bücher oder anderes Zeug schicken soll, aber keine Süßigkeiten.»Die junge Assistentin nahm den Backenzahn (vorher wollte ich ihn noch ansehen, diesen Todfeind, um das Geheimnis seiner Macht zu ergründen: Ihm also hatte ich einen Monat Schmerzen zu verdanken)
und wickelte ihn in einen Wattebausch.«Behalten Sie ihn», sagte sie lächelnd,«er schützt vor Unheil.»
    «Wirklich?»Doch gleich darauf lächelte ich. Immerhin nahm ich den Wattebausch, bevor ich ging - die junge Assistentin war gerade mit etwas anderem beschäftigt -, und steckte ihn rasch in meine Brieftasche. Meine Zunge tastete fortwährend nach der hohlen Stelle im Zahnfleisch, und jedes Mal überkam mich wieder die Angst vor der Abreise, die jetzt unvermeidlich war.
    Der Abstieg zum Fluss, da lag die Schwierigkeit. Aber vielleicht würde ich sogar die Zeit finden, im Fluss zu baden, wenn ich in den Stunden der größten Hitze dort anlangte. Vielleicht vergnügen die Verstorbenen sich damit, uns zu verfolgen, wenn wir von ihrem Aufenthaltsort weit entfernt sind, und daher ist es notwendig, dorthin zurückzukehren, mit erhobenem Haupt durch die Bäume des Gehölzes zu spazieren, das Eichhörnchen zu betrachten und dem Chamäleon Zigaretten anzubieten.
    Jetzt aber gab das Leben in der Stadt mir etwas zurück, das ich zu verlieren fürchtete, wenn ich einmal dort unten war; vor allem fürchtete ich, mich zu erschöpfen, nicht durchzuhalten. Und dabei hatte ich beschlossen, dass alles ein Irrtum gewesen sein sollte, allerdings ein Irrtum, der so
und nicht anders«irrtümlich»hatte begangen werden können. Die Wirklichkeit, das war diese Wirklichkeit des Lebens in der Stadt, die zugleich beruhigt und zerstreut; die Geschäfte, die Bar, das weiße Tischtuch, die Schauspielerin in der Nebenrolle, die nur für mich lebendig wird. Mein Tageslauf hatte einen langsamen Rhythmus angenommen, in dem die Nerven nahezu eingeschläfert waren.
    Vom Fenster des Zimmers aus, welches der Leutnant und ich bewohnten, genoss man den Anblick einer gesitteten, trägen, kleinstädtischen und zufriedenen, aber durch nichts zu ersetzenden Menschenmenge. Wenn wir über die Gärten hinweg ins Tal schauten, über dem der Himmel sich wie ein unendlicher Vorhang spannte, verstummte sogleich unser Gespräch, und wir wussten, aus welchem Grund.«Das Meer liegt in dieser Richtung», sagte der Leutnant einmal, und ich spürte, wie sich ihm das Herz zusammenzog, genau wie mir.
    Wozu brauchte man es noch zu sagen? Vielleicht konnte mein junger Freund nicht still sein und schätzte das Schweigen nur als Pause im Gespräch. Aber wann würden wir es wohl wiedersehen, dieses schmutzige Meer, das für alle das Gleiche bedeutete? Ja, es wäre das Gescheiteste, sofort ins Lager zurückzukehren und alles in Bewegung
zu setzen, um einen Urlaub zu erlangen, indem ich irgendein hartnäckiges Leiden vorschützte. Während ich hierblieb und meine Zeit vertrödelte, konnte ich alles in Frage stellen, wenn nicht sowieso

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