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Alles hat seine Zeit

Titel: Alles hat seine Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ennio Flaiano
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zuzulächeln, bis ich wenige Schritte von ihm entfernt war. Erst jetzt sah ich, dass es meine kurzen Hosen trug, dieselben, die ich der Frau geschenkt hatte.
    Nun, die Sache begann kompliziert zu werden. Diese Hosen waren eine zu deutliche Botschaft, als dass es mir schwergefallen wäre, sie zu entziffern. Ich sah einen Augenblick lang die Frau wieder vor mir, wie sie lächelte und mich mit ihren halbgeschlossenen Augen anschaute, aber diesmal war es fast so, als wollte sie mir ankündigen, dass es noch nicht zu Ende sei, wie ich gemeint hatte. Der Kleine trug diese Hose als einzige Bekleidung, sie reichte ihm von der Brust bis auf die Füße, und sobald er sah, dass ich sie betrachtete, zog er sie aus, stand nackt da und hielt sie mir hin. Er erstattete sie mir zurück, er gab zu, dass sie nicht sein Eigentum war; er benutzte die Gelegenheit, einem«Herrn»begegnet zu sein, um sie zurückzuerstatten.

    Ich machte ihm durch ein Zeichen verständlich, dass er sie wieder anziehen dürfe, aber er wollte nicht. Er streckte die Hand aus und reichte sie mir, entschlossen, mein Recht anzuerkennen, wenn ich ihn nur verschonte. Als er begriff, dass ich die Hose nicht nehmen wollte, legte er sie behutsam auf den Boden und begann wieder den Hügel hinaufzurennen.
    «Gehen wir», sagte ich zum Schmuggler. Wir stiegen dem Kind nach, das sich über unsere Verfolgung immer mehr wunderte. War es ihm denn nicht gelungen, uns zu besänftigen? Der Schmuggler hob die Hose auf; nach einer Weile kamen wir an den Rand einer Lichtung.
    Hinten, etwa zweihundert Schritte von uns entfernt, standen ringsum Hütten zwischen den Bäumen. Es waren nur ein paar elende Hütten, und man sah noch die Überreste von denen, die verbrannt waren. Auf den anderen wehten weiße Lappen, Zeichen der Kapitulation.
    Das Kind stand nackt mitten auf der Lichtung und schaute zu uns herüber. Es rief irgendetwas, als es uns auftauchen sah, und ein Mann, der gerade beim Schaufeln war, hörte zu arbeiten auf und wandte sich um, dann machte er sich wieder an seine Arbeit. Es war der Alte. Die Arbeit musste überaus wichtig sein, wenn unsere Anwesenheit es ihm nicht ratsam erscheinen ließ, sie zu unterbrechen,
um uns zu begrüßen. Er schaufelte rings um ein Grab und sagte nichts, als wir einen Blick hineinwarfen. Der Alte war dabei, es wieder zuzuschütten, und schwieg. Ich zündete eine Zigarette an, denn die Luft war noch von dem weichen und schweren Hauch der Leichen erfüllt, die Erde hatte sie nicht genug zugedeckt. Doch der Alte hatte es nicht eilig, und ohne uns anzusehen, warf er mit ruhigen Bewegungen die Erde hinein, wobei er versuchte, die Unebenheiten auszugleichen.
    Er fürchtete sich nicht vor uns, allerdings hielt er es auch nicht für angebracht, uns zuzulächeln und uns die Ehrenbezeugung zu erweisen, wie er es so viele Male gesehen hatte. Er warf die Erde hinein, wobei er manchmal die Schaufel, manchmal die Hände benutzte. Er würde dort bleiben, ohne uns anzusehen, bis die Arbeit vollendet war, und vielleicht wartete er darauf, dass ein Fußtritt von mir ihn dort hinunterbefördere zu jenen Körpern, die er gerade zudeckte wie Gegenstände, welche man der Neugier der Tiere und den Kränkungen der Zeit entziehen will.
    Ich brachte es nicht fertig, fortzugehen. Der Schmuggler hatte sich in einiger Entfernung auf einen Stein gesetzt, überzeugt, dass man die Toten ihre Toten begraben lassen müsse. Er begriff nicht, warum ich dort stand, um mit meiner Gegenwart
diesen Alten zu beleidigen. Er hielt mich gewiss für einen Dummkopf oder vielleicht auch bloß für einen Offizier. Wieder daheim in Italien, würden wir uns in verschiedenen Lagern gegenüberstehen, er von neuem gezwungen, sich unter Lebensgefahr seine Nahrung zu beschaffen.
    Er war ein schwieriger Charakter, dieser junge Mann, aber einer von den Menschen, die ich am meisten geschätzt habe. Übrigens waren sie alle beide da, die zwei Menschen, die ich am meisten geschätzt habe, wenige Schritte voneinander entfernt, der Schmuggler und der Alte, aber sie haben nie ein Wort miteinander gewechselt. Doch ihre Gedanken waren genau die gleichen, das fühlte ich, und zwar zu meinen Ungunsten, denn ich vertrat das«Gesetz»oder irgendetwas, das dem«Gesetz»ähnlich war.
    «Guten Tag», sagte ich. Was konnte ich sonst sagen?
    Der Alte wandte sich um und sah mich an. Sein Gesicht drückte keinerlei Gefühl aus, weder Erstaunen über diesen Gruß, der einer Niederlage gleichkam, noch Hass, den meine

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