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Alles hat seine Zeit

Titel: Alles hat seine Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ennio Flaiano
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ich in meinem Notizbuch auch den Tod dieser beiden Jungen vermerken. Irgendwie fühlte ich, dass ich daran schuld war, noch immer und für immer schuld war. Bevor ich den Feldwebel fragte, überlegte ich mir, dass das Verschwinden der Frau die Männer des Dorfes aufgebracht haben könnte. So waren also die Banditen, welche die Baustelle überfallen hatten, nur Menschen, die sich über ein Verbrechen empörten. Hatten sie etwa den Leichnam der Frau entdeckt? Nein, nein; und der Alte? Der Alte, der herumläuft und die Frau in den gastlichen Häusern sucht und den Kaffee trinkt, den ich abgelehnt hatte, und die Stummel meiner Zigaretten aufsammelt? Nein, niemand hat die Frau gesucht außer dem Alten. Und wer hört schon auf einen Alten, wenn er an den Türen jener gastlichen Häuser auftaucht, um nach einem Mädchen zu fragen? Nach einem Mädchen, das die Wildnis verlassen hat, um ein besseres Leben zu suchen, ein sehr viel besseres?

    Als ich den Feldwebel fragte, warum man die beiden jungen Leute erhängt habe, antwortete er tatsächlich, dass man in ihren Hütten das Diebesgut zum Teil wiedergefunden hatte.
    «Vielleicht haben die Banditen es zurückgelassen, als sie flüchteten», sagte ich.
    «Sicher», sagte ein Soldat, derselbe, welcher geschossen hatte und jetzt unserem Gespräch folgte.«Wenn sie es gestohlen hätten», fuhr er fort,«würden sie es dann wohl im Haus behalten?»Und er sah uns an, auf eine Antwort wartend, nach der er uns einschätzen konnte. Der Soldat war Schmuggler in seinem Dorf, und jetzt nahm er diese Gelegenheit wahr, um sich ein Urteil über uns zu bilden.
    «Was sollen die damit zu tun haben?», fügte er hinzu.
    «Du vergisst, dass man ein abschreckendes Beispiel geben musste», sagte der Feldwebel. Dreimal wiederholte er den Satz und blinzelte mir dabei zu; er wartete auf Hilfe, auf ein endgültiges Wort, oder vielleicht wollte er mich auch nur daran erinnern, dass dies eigentlich meine Pflicht gewesen wäre und er sich gezwungen sah, mich zu vertreten. Er war ein sonderbarer Mensch, dieser Feldwebel: Er richtete sich strikt nach dem Dienstreglement, und wenn er sprach, zitierte er es entweder buchstäblich oder drückte sich in wenigen
Worten in dessen Geist aus. Dabei erlaubte er sich nur wenige Adjektive, und zwar nur solche, die von der Presse oder vom militärischen Sprachgebrauch gutgeheißen wurden. Das Kommiss-Essen war«vorzüglich», und wenn ein Flugzeug vorbeiflog, war dies«unsere tapfere Luftwaffe». Von meinem Schweigen ermutigt, schloss er:«Das Beispiel bedeutet, dass diese Leute es sich ein andermal überlegen, bevor sie stehlen.»
    «Man sieht, dass Sie nie gestohlen haben», erwiderte der Schmuggler mit tiefer Verachtung, während er mir immerhin einen Blick voller Sympathie zuwarf. Der Spaziergang wurde fortgesetzt.
    «Also ist nicht die Frau der Grund für den Überfall auf die Baustelle gewesen», dachte ich. Es war nicht mein Pistolenschuss gewesen, der die Lawine ins Rollen gebracht hatte. Die Frau war etwas, das nur mich betraf. Mich und den Alten. Aber nur noch für kurze Zeit. Der Alte würde nicht auf seinen Nachforschungen beharren, oder er würde vielleicht auch sterben. Ist es möglich, in einem solchen Gehölz lange zu leben? Ich würde dieses Land verlassen und als einziges Andenken daran nur ein paar Fotografien mitnehmen. Ich würde die Frau vergessen und ebenso meinen Irrtum, alles. Oh, es war unwahrscheinlich, dass ihr Gespenst mir am Fußende meines Bettes erscheinen würde.

2
    Als wir den Wildbach überschritten hatten, schlugen wir den Pfad ein, auf dem sie an jenem Abend aufgetaucht war, als sie das Körbchen mit den Gaben brachte. Jetzt, da alles mir ihre Gegenwart heraufbeschwor, war ich ruhig, fast als sollte ich sie wiedersehen, und es wäre noch nichts geschehen. Der Pfad musste zu jenen dicht beieinanderstehenden Bäumen führen, hinter denen, ihrer Bezeichnung nach, wohl das Dorf lag.
    Ich hatte die Pistole wieder in die Tasche gesteckt; meine rechte Hand war wie betäubt, noch immer wegen dieses nicht verheilten Kratzers. Ich schritt behutsam voran, und die Soldaten folgten singend nach. Sie sangen das Lied von der Grammophonplatte, das Lied, das sie bei ihrer Abreise gesungen hatten, das aber, wenn sie heimkehrten, keine Frau mehr singen würde. Ich ging langsam, denn da hatte sie gelebt, und die Orte kamen mir ebenso vertraut vor, wie sie ihr gewesen sein mussten. Vielleicht bewahrte der Sand noch die Spuren ihrer

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