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Alles hat seine Zeit

Titel: Alles hat seine Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ennio Flaiano
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ruhig sein dürfe, es würde nichts geschehen. Und überhaupt, was konnte mir schon geschehen? Ich hatte gewiss keine Angst, unterwegs versprengten Freischärlern zu begegnen. Ich wusste, dass sie es vorzogen, bei Tag nichts zu unternehmen, und darauf bedacht waren, ihre Überfälle dort zu machen, wo es etwas zu holen gab. Und was hätten sie bei einem
Zug Soldaten schon holen können, außer Briefen und Gedanken an die Heimkehr? Was die Frau anging, so lag sie ordentlich in ihrem Graben, sofern nicht irgendeine Hyäne so stark und geschäftig gewesen war, alle Steine wegzuschaffen, einen nach dem anderen. Vielleicht hätte es geschehen können, aber die Grube war tief, und die Steine waren groß. Nein, die Frau lag noch dort, dessen war ich gewiss, und sie würde ausdörren unter den Steinen, die ich hingelegt hatte, und zwar mit so großer Vorsicht hingelegt, fast als fürchtete ich, ihr weh zu tun.
    Nach einer Stunde waren wir bei der Maultierleiche angelangt. Es war recht wenig davon übriggeblieben, aber immer noch verbreitete sich der Gestank bei der starken Hitze; und mehr als der Buschwald und das Tal, die sich meinen Blicken genauso darboten wie damals, war es dieser unerträgliche Gestank, der die Erinnerung an das Geschehene wieder wachrief.
    Ich ging voraus, abgesondert von den anderen, nicht etwa, um Mut zu beweisen, sondern nur, um der Auffindung irgendeines vergessenen Gegenstandes zuvorzukommen. Ich war sicher, dass ich nichts vergessen hatte; aber dieser Briefumschlag? Ein Beispiel dafür, dass man sich solche Dinge nie aus der Tasche fallen lassen sollte. Das Vorhandensein eines zweiten Briefumschlags wäre
unerklärlich gewesen. Doch auch dies ist einer von jenen Gedanken, die einem kommen, wenn man eine Abkürzung macht und die Soldaten singen.
    Der Feldwebel kam und schlug mir vor, ich solle sie zum Schweigen bringen. Er erklärte, dass wir leicht in einen Hinterhalt geraten könnten, wenn wir unser Kommen auf diese Weise ankündigten.«Richtig», erwiderte ich,«bringen Sie sie zum Schweigen.»
    «Der Frau hätte es allerdings Freude gemacht», dachte ich. Die Soldaten waren jetzt still, wenn auch ungern, denn durch das Singen drückt der Soldat seinen Protest aus und befreit sich von seinem Verdruss; und wenn er singt, denkt er nicht ans Heimkehren.
    Jetzt schaute ich in die Äste eines Baumes hinauf.«Halt!», rief ich. Dort war etwas, ein Bündel, ich sah es nicht genau. Ich ging weiter, die Pistole in der Rechten, und hörte, dass die Soldaten verwirrt ihre Waffen bereitmachten. Was war dieses Bündel? Ein Mann. Aber ein Mann, der auf einem Baum steht? Ein Wachtposten? Und er bewegt sich nicht? An der Wegbiegung erkannte ich, dass es ein Erhängter war. Aufgehängt im Hemd, die Stirn zur Erde geneigt, gleichsam als denke er über sein Unglück nach; die Hände hingen seitlich herab, die Glieder waren geschwollen. Ich
hätte ihn nicht wiedererkannt, wenn nicht am Fuße des Baumes jene schrille Fiedel gelegen hätte, gänzlich kaputt. Er war einer von den jungen Leuten, ja, der Geigenspieler.
    Die Soldaten hielten sich abseits und sprachen nicht. Niemand sagte ein Wort. Es herrschte ein so unbehagliches Schweigen, dass ein Soldat in die Äste des Baumes schoss. Die Raben flogen auf, ein großer Vogel fiel zu Boden; er schlug um sich und verlor die Federn. Andere ähnliche Vögel versuchten wegzufliegen, aber sie waren zu satt und ließen sich faul und zufrieden in den Zweigen eines benachbarten Baumes nieder. Ich gab einen Wink, nicht zu schießen. Der Flug dieser Vögel, das war zu viel; besser, man forderte sie nicht heraus.
    «Es ist einer von den Banditen», erklärte der Feldwebel.
    «Ein Geige spielender Bandit», erwiderte ich. Aber ich wollte nicht, dass er begriff, es war nicht nötig.
    In der Nähe, am Fuß eines Baumes, hatten die Soldaten einen anderen Körper entdeckt, sie hielten sich in einiger Entfernung und beobachteten ihn; sie konnten den Blick nicht von dem reglosen und entstellten Leichnam wenden. Es war der andere Junge, der mit seinem Tanzen die Zeit vertat und überall herumwirbelte vor lauter Seligkeit,
am Leben zu sein, am Leben in einem Gehölz am Fluss, wo es kein Kino und keine Bar gab. Als wir uns wieder auf den Weg machten, begann ein Soldat ein allzu fröhliches Lied zu singen, die anderen hörten ihm zu, aber keine Stimme fiel mit ein, auch nicht beim Refrain. Wir waren in der Nähe des ausgetrockneten Wildbachs, man musste rasch weitergehen. Vielleicht sollte

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