Alles hat seine Zeit
Füße.
Dreihundert Meter von uns entfernt bewegte sich ein Busch, und ein Mann kroch darunter hervor und flüchtete. Ich konnte den Feldwebel gerade noch rechtzeitig daran hindern, zu schießen, aber nicht daran, zu schreien, und der Mann (aber
war es überhaupt ein Mann, oder täuschte uns die Entfernung?) wandte sich kaum um und begann wieder planlos davonzurennen. Wir sahen, wie er in einen Graben fiel, gleich darauf wieder auftauchte und zwischen den Sträuchern Zuflucht suchte; dann schaute er argwöhnisch zu uns herüber und rannte wieder weiter.
«Lassen wir ihn laufen», sagte ich. Doch der Feldwebel warf mir einen spöttischen Blick zu. Er musste ihn«gefangen nehmen». Ich versuchte ihm verständlich zu machen, dass es von dem Mann recht klug war davonzulaufen, sobald er uns sah. Er hatte ja gemerkt, wie leicht man an einem Baum hängen kann, wenn man eine dunkle Haut hat, und so versuchte er eben, einen möglichst großen Abstand zu schaffen zwischen seinem Hals und uns, die wir vermutlich schon den Strick bei uns trugen. Er flüchtete wie ein Tier und fragte sich nicht, ob wir nicht gerade durch seine Flucht dazu veranlasst würden, ihn für schuldig zu halten. Er brachte sich in Sicherheit, er versuchte wenigstens, sich in Sicherheit zu bringen. Es wäre zu viel verlangt, dass er auf uns gewartet und uns lächelnd seinen in der Kerbe des Spazierstocks steckenden Unterwerfungsausweis vorgezeigt hätte.
Die Eingeborenen liefen noch immer mit dem Unterwerfungsausweis herum. Sie hatten sich in
den ersten Tagen bei den Kommandostellen gemeldet, um die neuen Herren anzuerkennen, ihnen Treue oder auch nur Gehorsam zu schwören. Sie wollten in Frieden leben, und oft hatten sie den ersten besten Soldaten um ein sichtbares Zeichen ihres guten Willens gebeten, denn der erste Soldat, dem man begegnet, ist immer der gefährlichste. Und die Soldaten hatten sich einen Spaß daraus gemacht, selbsterfundene Ausweise auszustellen, die nicht weniger gültig, aber dafür malerischer waren als die, welche von den Kommandostellen verteilt wurden. Nicht selten traf man jemanden mit einem verfallenen Lotterielos an, das sein kostbarstes Papier war, das Zeichen, dass er nicht belästigt werden durfte. Sie hatten sich unterworfen, dem Willen Gottes gehorchend. Wieder andere trugen Zettel bei sich, die mit Sätzen beschrieben waren, welche nicht immer geeignet sind, wiedergegeben zu werden, oder auf denen die Aufforderung zu lesen stand, dem Überbringer Fußtritte zu versetzen; und von einem neuen Vertrauen erfüllt, gingen sie dann über die neuen Straßen und benutzten die Abkürzungen nicht mehr.
Wir sahen den Mann flüchten und dann stillstehen, unschlüssig, was er tun sollte. Er blickte in unsere Richtung, sah uns auf seiner Fährte und fühlte sich verloren; er wunderte sich, dass wir
nicht schossen, da wir doch in der Verfolgung so unerbittlich waren.
«Es ist ein Kind», sagte der Schmuggler.
«Ein Kind?»
Es war am Fuß eines kahlen kleinen Hügels stehengeblieben, wo der Pfad offen dalag; es hätte uns ein allzu bequemes Ziel geboten. Als es uns kommen sah (ja, es war wirklich«jenes»Kind), fing es von neuem an zu laufen. Es begann hinaufzuklettern, wobei es sich an die Sträucher klammerte, und folgte dem Pfad nicht mehr. Seine Angst rührte die Soldaten zu Mitleid.«Bleiben wir stehen», sagte irgendwer.
Ich hatte dasselbe gedacht, war jedoch nicht fähig gewesen, stillzustehen. Jetzt musste ich das Kind erreichen. Ich rief dem Feldwebel zu, er solle mit den Männern zurückbleiben, dann winkte ich dem Schmuggler, mir zu folgen.
«Lauf nicht weg!», rief ich dem Kind zu. Aber rief ich nicht vergebens? Es konnte mich bestimmt nicht verstehen. Der Schmuggler, der mich hätte überholen und das Kind erreichen können, folgte mir schwerfällig, durchaus nicht von der Notwendigkeit überzeugt, es zu erwischen. Vielleicht lebte irgendein ähnliches Abenteuer in seiner Erinnerung wieder auf, bei dem ihm die schlimme Rolle des Flüchtenden zugefallen war und er das Keuchen und die Rufe der Verfolger, die diese
Arbeit nur ausführten, weil sie dafür bezahlt wurden, hinter sich gehört hatte.
Das Kind war stehengeblieben und lehnte sich an einen Baum, ein paar Meter über unseren Köpfen. Es gab auf; ich sah, dass sein kleiner Körper von der Angst geschüttelt wurde, aber es hatte begriffen, dass es nutzlos war, weiter zu fliehen. Die Anstrengung, die mir das Hinaufklettern bereitete, hinderte mich, ihm
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