Alles hat seine Zeit
mir selbst, ich fühlte, dass ich nicht die Kraft haben würde, den Abzug zu drücken. Und dann, in der äußersten Verzweiflung, kam das, was ich fürchtete: die Hoffnung.
Ich urteilte aufgrund von zu geringem Wissen.
Die Frau hatte zwar den Turban aufgehabt, aber sie war ja gerade dabei gewesen, sich zu waschen, und sie hatte ihn umgewickelt, um ihre Haare nicht nass zu machen. Ich hatte keine Wunden an ihrem Körper gesehen. Ihr zweideutiger Widerstand? Sie wollte besiegt sein, um sich weniger schuldig zu fühlen, das war alles. Ich erinnerte mich an ihr Lachen, als die Nacht ihr alle Gewissensbisse genommen hatte.
Außerdem musste ich zuerst einen Arzt aufsuchen, mich erkundigen. Und ich konnte nicht auf den Urlaub verzichten, den einzigen Ausweg, der mir blieb. In Italien würde ich mich besser pflegen können, und an dem Tag, an dem keine Hoffnung mehr möglich war (ich würde es in«ihren»Augen lesen), würde ich mich umbringen. Ehrlich umbringen. Doch jetzt konnte ich mich nicht der Gefahr aussetzen, in irgendeinem trübseligen Gebäude festgehalten zu werden, wo nichts funktioniert und die Klingeln ungehört verhallen und das Gelächter der Krankenschwestern durch die Korridore schallt und an den Zimmertüren unterdrückt wird. Hierbleiben und warten, dass die Finger, einer nach dem anderen, zusammenschrumpfen und dass dann die Hand schrumpft und dann der Bauch Schrunden bekommt und der Hals zerklüftet wird? Ich musste ruhig sein und zu«ihr»zurückkehren, wenigstens versuchen,
dorthin zurückzukehren. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass es nichts Ernsthaftes war, und ich musste sie doch in Betracht ziehen, diese einzige, ferne, leuchtende Möglichkeit. Kaum war ich mit diesen Überlegungen am Ende, als mich die Verzweiflung von neuem packte, und von neuem musste ich meine Schreie im Kissen ersticken.
4
So lag ich da, auf dem Bauch, in angstvolle Betäubung versunken, und betrachtete bald das Flackern der Kerze, bald die Flecken auf dem Zelt, als ich plötzlich einen leichten Hauch spürte.
Es war kein übler Geruch, sondern ein fast unmerklicher Hauch, der mich an irgendetwas erinnerte, auch ein wenig an das Zimmer der beiden Mädchen, besonders an das Mädchen, das neben mir gelegen hatte. Doch dies war ein Hauch, der umso unerträglicher war, als er gar nicht zu existieren schien, eine Botschaft, die ich allein wahrnehmen sollte. Es war wie die Botschaft von einem Sieg, ein anmaßender Hauch, endlich der Triumphschrei, der aus dem Abgrund herauftönt! Ich roch an der Decke, am Kissen, noch wie betäubt vom Schmerz, aber es gelang mir nicht, die Herkunft jenes Hauches festzustellen und auch
nicht all die anderen Elemente, aus denen er bestand. Doch der Duft von Nachtlilien in einem warmen Zimmer war dabei. Diesen Duft roch ich ganz rein, wenn auch nur von Zeit zu Zeit. Dann irgendetwas, das an das Fell von streunenden Hunden erinnerte, von streunenden Welpen, und auch an Weihrauch: aber an einen süßlichen, uralten, zähen und mit Vanille vermischten Weihrauch, welcher vom frischen Geruch nach feuchter und aufgelockerter Erde überdeckt wurde. Es hatte geregnet, und es war logisch, dass die Erde feucht war, aber warum aufgelockert? Ich zündete eine Zigarette an, und obschon der Rauch im Zelt hängenblieb, wurde er sogleich von diesem Hauch überdeckt, welcher immer schwerer und lebhafter wurde. Jetzt mischte sich noch der Duft von Lilien hinein, der Duft, der aus der Vase strömt, wenn man den Lilien frisches Wasser gibt, nicht so rein allerdings, sondern heimtückisch, ein Duft, der nicht an die Reinheit der Lilien erinnerte. Und war nicht vielleicht auch der Geruch nach der Schlucht dabei, der schwüle und unerträgliche Geruch der dürren Sträucher auf jenem Grab? Es waren trockene Sträucher, sagte ich mir, sie konnten gar keinen Geruch ausströmen. Und warum, um das Gebräu noch unheilvoller zu machen, dieser verdächtige Geruch nach Kakao?
Vielleicht die Wunde? Ich beroch sie, und jener
Hauch vermischte sich noch mit dem Geruch nach Jodtinktur, aber es war nicht die Wunde. Nein. Aufgeworfene Erde vor allem, mit welkenden Blumen vermischt, von mitleidigen Freunden dort vergessen und etwas feucht vom Nebel.«Ah», sagte ich,«das ist zu viel, Mariam.»
Ich schraubte eine Flasche mit Kölnischwasser auf und verspritzte es aufs Bett; wieder sagte ich zu mir:«Mariam, das ist zu viel.»
Es war nicht auszuhalten. Jetzt verband sich auch das Kölnischwasser mit diesem fauligen Gemisch, und
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