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Alles hat seine Zeit

Titel: Alles hat seine Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ennio Flaiano
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lange zwischen den Buden umher und betrachtete die Waren mit dem zerstreuten und belustigten Blick des Besuchers, der nichts kauft. Aber ich bezweckte etwas anderes: Ich musste wissen. Deshalb suchte ich eine Wunde, die der meinen ähnlich war. Unter all den vielen Wunden dieser Abessinier würde ich wohl eine finden, die der meinen glich, dessen war ich sicher. Wenn ich eine solche Wunde bei einem Menschen auf dem Markt fände, würde mein Herz vor Seligkeit zerspringen, und ich würde zum Arzt rennen:«Heile diese Schweinerei hier.»Ich suchte also nach Wunden, aber es war gar nicht so leicht, welche zu finden. Immerhin kamen dann und wann Eingeborene vor das Zelt des Doktors, um sich behandeln zu lassen, und der Sanitäter behandelte sie, brüllte sie in seinem Dialekt an und ärgerte sich, für diese aufdringlichen Leute arbeiten zu müssen, aber dennoch zufrieden, es zu tun, da er mit ihren tiefen Verbeugungen, mit ihrem Lächeln voll brüderlicher Demut belohnt wurde.
    Ich fand ganz verschiedene Wunden. Ich musste zugeben, dass es ganz andere waren, breiter als die meine, ja, fast alle waren breiter, aber von normalem Aussehen, eben wie Wunden, die ein wenig Zeit brauchen, bis sie heilen. Aber sie werden
heilen, wenn man sie nur jeden Tag etwas reinigt. Dort war ein Kind mit einer Wunde am Knöchel. Richtig, es läuft barfuß, der Staub wird sie schlimmer machen, sofern er nicht notwendig ist, um sie zu heilen. Keine Wunden an den Händen.
    Der Händler sah mich eingeschüchtert an; wollte ich vielleicht seine Schwarzhandelswaren beschlagnahmen, die er bei der Heeresverpflegung gekauft oder beim Major eingesteckt hatte?
    «Du, zeig mal deine Hände.»Er zeigte mir seine Hände, und auch er sah sie lange an, als sehe er sie zum ersten Mal und entdecke daran etwas Neues und Unerwartetes. Die Hände waren schmutzig, aber gesund. Es waren knotige Hände, schmutziger als die Füße, die manchmal, ohne dass sie es wussten, in irgendeine Wasserpfütze traten, aber sie waren gesund. Immerhin, dieser Händler hatte eine Wunde an der Wade.
    Die Hoffnung schwand: Ich würde keine Gewissheit haben. Dennoch verließ ich den Platz nicht, ich suchte noch weiter zwischen den Buden, ich näherte mich Leuten, die in Gruppen beisammensaßen, ich drang bis zur Krankenbaracke vor. Nein, es waren«andere»Kranke. Krank waren sie auch, aber es gingen Leute zu ihnen. Eine junge Frau hatte einem Alten etwas zu essen gebracht und saß auf der Schwelle der Baracke und wartete. Sie wippte mit dem Fuß und lächelte
mir zu. Am Fuß hatte sie eine Wunde. Aber es war eine gesunde Wunde, anders als meine. Als die Frau sah, dass ich die Wunde betrachtete, betrachtete sie sie ebenfalls, wie man ein Schmuckstück betrachtet.
    Warum kehrte ich nicht zu den beiden Frauen zurück, warum bat ich sie nicht, mir noch einmal ihre Hände zu zeigen? Ich würde mir gewiss viel Mühe ersparen, aber vielleicht waren die Frauen um diese Zeit gar nicht da. Sie konnten ja nicht den lieben langen Tag dastehen und auf mich warten! Sie waren sicher nicht da. Und außerdem, lassen wir doch die beiden Frauen in Frieden. Warum sie kränken mit meiner ungesunden, unschicklichen Neugier? Ich erinnerte mich wieder an das Unbehagen, das ich in der Schule an den Tagen verspürte, an denen die Prüfungsergebnisse ausgehängt wurden. Ich zog es vor, nicht dorthin zu gehen, sondern zu warten, dass die Klassenkameraden mir mit ihrem Benehmen sagten, was passiert war. An ihren Gesichtern wollte ich es erraten. Aber die Frauen waren um diese Zeit nicht im Hof, sie würden sich wohl erst am Abend wieder dorthin begeben. Wegen der Gebete, dachte ich.
    Ich machte wieder die Runde um den Platz und stieg dann zum Ziehbrunnen hinauf. Auch dort viele Wunden, aber immer an den Füßen.

    Einige entsetzlich offen und einige schon mit einer zähen Kruste geschlossen, aber Wunden, die von der Sonne, der Hitze, der schlechten Ernährung oder vom Barfußlaufen kamen. Niemand hatte Wunden an den Händen.
    Als ich in die Wirtschaft eintrat, sah mich die dicke, in Rosa gekleidete Äthiopierin mit strengen Augen an. Was hatte ich an diesem Ort zu suchen? Wollte ich aus diesen Bechern saures Bier trinken? Ich, ein«Herr»?
    «Guten Tag, Herr Oberleutnant», sagte die rosa gekleidete Äthiopierin.
    «Guten Tag», erwiderte ich. Sie hatte ein breites, helles, großflächiges Gesicht, und auch ihre Hände waren hell und wohlgeformt. Sie forderte mich auf, mich zu setzen; ich lächelte und

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