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Alles hat seine Zeit

Titel: Alles hat seine Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ennio Flaiano
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überaus schmerzlich. Er vermied es, mich anzusehen, oder vielleicht konnte er es nicht, denn wir saßen auf derselben Treppenstufe, und er hätte den Kopf wenden müssen.«Es gibt kein Lepraheim. Sie wohnen hier. Sie haben wenigstens den Trost der Religion. Denk doch, nur ein paar Schritte bis zur Kirche.»
    «Immerhin, es ist ein Trost», sagte ich. Wir schwiegen, und ich wunderte mich, dass das Leben auf dem Platz weiterging. Die Wirtin lachte sogar.
    «Ich würde mich erschießen», sagte der Leutnant leise.
    «Ich auch.»
    Aber der Leutnant schüttelte den Kopf, und ehe er sprach, zündete er seine Zigarre an und brauchte viele Streichhölzer dazu.«Wir sind an die Hoffnung gewöhnt.»
    «Aber in solchen Fällen ist die Hoffnung nutzlos», sagte ich. Jetzt fühlte ich mich ruhig, ich hatte alle Ängste vertrieben und berührte meine Hand, froh, dass sie mir nicht weh tat. Ich musste ins Lager zurück, vielleicht war das Lastauto mit der Post angekommen.

    «Wirklich unnütz. Einige werden geheilt, aber nach zehn Jahren fängt es doch wieder an», sagte der Leutnant.
    «Dann muss man die Kraft finden, sich zu erschießen», schloss ich.
    Der Leutnant nickte, dann sagte er, er könne es kaum erwarten, nach Italien zurückzukehren.«Dieser Major mit seinen Gemeinplätzen hat recht. Es ist zu traurig, dieses Land. Zu traurig. In einem Land, in dem die Hyäne geboren wird, muss irgendetwas faul sein.»
    «Ja, es muss irgendetwas faul sein», wiederholte ich. Und dieses Irgendetwas hütete ich bereits in meinen verborgensten Gedanken, niemand würde es je begreifen, nicht einmal«sie».
    «Ich kann es kaum erwarten wegzukommen», fuhr der Leutnant fort,«und das zu machen, was ich früher machte. Sogar Dummheiten, vor allem Dummheiten. Und nicht mehr das Urteil dieser Erde, der Bäume und Menschen ertragen müssen, die alle alt geworden sind in ihrer Verschlafenheit. »
    «Du hast recht», sagte ich. Jetzt musste ich ins Lager zurück, vielleicht war am Nachmittag Post gekommen.
    Und da lag der Platz vor uns, dieser düstere und wunderbare Platz, auch er verfallen in der Verschlafenheit der Jahrhunderte. Was sagten sie
wohl jetzt zueinander, die beiden Mädchen im Hof vor der Kirche? Würden wir je ihre Blicke vergessen, als wir uns entfernten mit der Vorsicht von Leuten, die nicht mit hineingezogen werden wollen? Und würde ich ihre Hände vergessen? Sie hatten sie vorgezeigt, als wären es nicht ihre Hände, sondern als wollten sie nur irgendwen anklagen. (Doch sie standen im Hof bei der Kirche, weil sie hofften und immer hoffen würden.) Und dennoch, es waren vier zerfressene Hände, ein paar Finger in die Handfläche eingezogen und die dunklen Auswüchse von einem verfluchten Rot. Aber ja, schaut her, das waren unsere Hände, und es wird immer schlimmer werden, sie werden schließlich abfallen, und dann wird irgendjemand uns das Essen hineinfüttern müssen, und er wird es widerwillig tun, die Kehle zugeschnürt vor Ekel; er wird es tun, um sich diesen schweren und reinen Himmel zu verdienen, der über uns ist. Und andere werden von unserer Schönheit angezogen, aber sie kehren uns sogleich den Rücken und lächeln über den plötzlichen, angenehmen, egoistischen Schrecken bei diesem Anblick und sind glücklich, durch die Pforte schreiten zu können, auch wenn sie im Nacken unsere Blicke fühlen.
    «Warum leben diese Frauen so frei?», fragte ich. Der Leutnant wandte sich zum ersten Mal zu
mir.«Alle wissen, dass sie aussätzig sind», sagte er,«auch ich wusste es.»
    «Aber man sieht es überhaupt nicht. Und es kann doch vorkommen, dass jemand sich ihnen nähert», bemerkte ich. Gewiss würde es jemand tun, und sei es nur, um der Lehre in diesen Augen, welche die Farbe des Abends in sich aufsogen, seine Verehrung darzubringen.
    Der Leutnant zündete von neuem seine Zigarre an und schaute nicht zu mir hin. Dann sagte er:«Nein, das kommt nicht vor.»Und da ich schwieg, wiederholte er:«Nein, es kommt nicht vor, es kann gar nicht vorkommen. Sie sind unberührbar. »
    «Unberührbar?»Ich hatte die Kraft zu lachen.
    «Ja, unberührbar. Sie tragen ein Zeichen, das alle kennen, und deshalb kommt ihnen niemand allzu nahe. Außer der Hoffnung.»Dann fügte er hinzu:«Es darf ihnen nämlich niemand nahe kommen.»
    Der Abend wich der Nacht, und pünktlich wie eine Fledermaus kehrte die Schwermut wieder, diesmal unentrinnbar. Ich hatte Angst zu fragen, ich glaubte es schon erraten zu haben. Ich machte mir Mut, und indem

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