Alles kam ganz anders
Grand-mère mit einem überdimensionalen Kuchenpaket.
„Grand-mère!“ rief ich. „Glaubst du, daß ich ein Tintenfisch mit acht Armen bin? Wie sollen wir das alles mitkriegen?“
„Wir laden es auf die Sportkarre“, sagte Simone. „Ich bringe Sie zum Bus!“
Ich hatte gerade noch Zeit, zu Hause anzurufen und zu bitten, daß Marcus uns mit Mamas Einkaufsroller an der Bushaltestelle abholte.
Am Bus verabschiedeten wir uns von Simone und Titine. Simone nahm das Kind auf den Arm, und beide winkten uns zu, als der Bus sich in Bewegung setzte.
Die Überraschungen nehmen kein Ende
Grand-mère war ganz aufgekratzt. Erstens darüber, daß eine so reizende junge Frau ihr geholfen hatte – sie hatte wohl im Vorbeigehen gehört, daß Grand-mère sich vergeblich bemüht hatte, den Weg zu unserer Konditorei zu erfahren –, zweitens weil das hilfsbereite junge Mädchen aus derselben Stadt kam wie sie selbst – und drittens, und ich glaube, dieser Grund war der wichtigste: Ein junger Mensch brauchte Hilfe. Und Hilfe sollte sie haben, da war Grand-mère fest entschlossen, so wahr sie Elaine Désirée Bonassi hieß!
Erst am Kaffeetisch kamen wir so weit zur Ruhe, daß Grand-mère zusammenhängend erzählen konnte.
„Ja, wißt ihr, die kleine Simone ist ganz auf sich selbst angewiesen, sie muß sich selbst und das Kind versorgen. Sie hat ja ihre Mutter in Hamburg, aber sie arbeitet auch schwer. Simone hat allerlei Jobs gehabt, sie hat sich vor keiner Arbeit gescheut, wenn sie bloß das Kind bei sich haben konnte. Diese Anstellung in Hannover bekam sie durch eine Zeitungsanzeige. Sie hat ein paar Monate im Haushalt gearbeitet, jetzt ist die Familie in Urlaub, und Simone hütet ein. Sie betreut zwei Wellensittiche und ein großes Aquarium und eine Unmenge Zimmerpflanzen, nimmt Telefonate entgegen und so was. Aber wenn die Familie in vier Wochen zurückkommt, ist es aus, dann wird sie nicht mehr gebraucht. Wenn sie keinen neuen Job kriegt, muß sie zu ihrer Mutter. Da bleibt sie dann und lebt von dem, was sie während ihrer Jobs gespart hat, bis sie eine neue Arbeit findet.“
„Gibt es denn keinen Menschen, der sich um das Kind kümmern könnte, so daß die arme Simone eine regelmäßige Arbeit – also, eine feste Anstellung – annehmen könnte?“
Es war Mama, die fragte.
„Anscheinend nicht. Ihre Mutter ist selbst berufstätig. Wenn Titine ein bißchen älter wird, könnte sie in einen Kindergarten kommen, aber vorläufig muß Simone sich selbst um sie kümmern. Und du sprichst von einer Anstellung, ma petite. Denk daran, daß das Mädchen mit sechzehneinhalb Mutter wurde. Sie hat also keine Berufsausbildung, wahrscheinlich auch keinen Schulabschluß!“
Papa dachte mit gerunzelter Stirn nach. „Was kann sie, außer Französisch?“
„Ein nicht fließendes, aber brauchbares Englisch, erzählte sie. Und das ist alles, was ich über sie weiß. Wenn man ihr bloß helfen könnte! Ihr müßt es euch auch überlegen, ob ihr einen Ausweg finden könnt. Ich mochte das junge Mädchen so gern – und du doch auch, ma petite?“
Diesmal war ich die petite. Ich nickte eifrig.
„Ja. ich mochte sie furchtbar gern. Sie hat so schöne Augen – große, ernste Augen, die von Kummer erzählten, und sie war so unsagbar liebevoll zu der kleinen Titine…“
„Jedenfalls möchte ich sie wiedertreffen“, sagte Grand-mère entschlossen. „Ich möchte in Kontakt mit ihr bleiben!“
Der Anfang dieses Kontakts wurde schon am folgenden Tag gemacht. Da kam ein Brief für mich an, ein dicker Brief, an Fräulein Elaine Grather, Rosenbüttel adressiert. Also eine etwas unvollständige Adresse, aber Frau Henning an der Post ließ schließlich ihre Kleider von Mama nähen. Sie wußte Bescheid über Familie Grather!
Der Brief kam aus Hannover. Als ich ihn öffnete, fiel ein kleines Schächtelchen heraus. Darin lag – meine Plastik-Halskette! Dabei hatte ich sie gar nicht vermißt!
Liebe Elaine Grather!
Als ich soeben nach Hause kam, fand ich Ihre Halskette in der Sportkarre. Ich bitte tausendmal um Entschuldigung für meine diebische Tochter!
Ich denke so sehr an unsere nette Begegnung. Für mich war es ein ganz großes Ereignis, von dem ich in meiner Einsamkeit lange zehren werde.
Grüßen Sie bitte Ihre entzückende Urgroßmutter. Ich glaube, sie ist ein ganz seltener Mensch – möge sie noch lange leben. Diese Welt könnte mehr solche Menschen brauchen.
Viele Grüße von der Diebin Titine und Ihrer
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