Alles kam ganz anders
mich.
„Und dabei bin ich gerade der Mensch, der dich am allerwenigsten stören wird. Ich werde es einfach nicht tun können. Denn ich werde im September für etwa drei Monate verreisen.“
„Was willst du, du altes Ungeheuer?“
„Verreisen. Fliegen. Verschwinden. Zusammen mit meinem Schweizer Professor, dem wir zu verdanken haben, daß wir uns damals auf Kreta trafen.“
„Aber wo fliegst du hin? Wieder nach Kreta?“
„Von wegen! Kreta liegt sozusagen direkt vor meiner Wohnungstür, im Vergleich mit der Entfernung zu meinem neuen Reiseziel. Ich fliege nach Yucatan.“
„Yuca… ach, wenn ich nur in den Geographiestunden etwas besser aufgepaßt hätte! Yucatan, warte mal, das liegt doch irgendwo in Amerika?“
„Nicht irgendwo – es ist eine Halbinsel, die die Nase in den Golf von Mexiko reinsteckt.“
„Und was willst du da machen?“
„Buddeln, studieren. Aufzeichnungen machen und die alte Mayakultur kennenlernen. Und außerdem tüchtig schwitzen. Es soll eine Mordshitze dort sein. Ja. und mich nach meinem Mädchen in Rosenbüttel sehnen.“
„Ja. darum möchte ich auch sehr bitten! Aber Ingo, es ist ja furchtbar – sagtest du drei Monate? Kommst du dann jedenfalls Weihnachten zurück?“
„Ja. gerade noch. Und du hast Arbeitsruhe und kannst dich ganz und gar auf deine Schularbeiten konzentrieren. Du mußt es schaffen, die Beste der Klasse zu werden!“
„Himmel, was habe ich mir bloß vorgenommen! Aber sag nun, wieso hat der Professor ausgerechnet dich auserwählt? Braucht er einen Assistenten, oder…?“
„Warum er mich auserwählt hat? Und das fragst du? Warum hast du mich denn auserwählt? Natürlich, weil ich ein netter und freundlicher und intelligenter…“
„…und bescheidener“, unterbrach ich.
„…und interessierter junger Archäologe bin. Außerdem, weil ich den Professor fahren und die anstrengendsten Dinge auf meine starken Schultern laden kann. Mein Professor ist zweiundsiebzig, du kannst nicht von ihm verlangen, daß er stundenlang bei sengender Hitze im Yucataner Kalksteinboden buddelt, womöglich auf den Knien liegend. So was überlaßt er mir. Im Ernst, Lillepus. Dies ist für meine Arbeit und meine Zukunft ungeheuer wichtig. Ich habe mir ja immer gewünscht, die Mayakultur näher kennenzulernen. Und wenn ich denke, daß ich jetzt selbst, persönlich, Ausgrabungen machen darf!“
„Hoffentlich findest du auch etwas“, sagte ich. „Also, nicht nur Unkraut und Steine, so wie hier, als du unseren Garten umgegraben hast!“
„Das war mit Abstand die schönste Arbeit, die ich jemals gehabt habe“, sagte Ingo. „Und mir können alle alten Mayaschätze gestohlen bleiben im Vergleich mit dem Schatz, den ich durch die Gartenarbeit hier gefunden habe!“
Was weiter zu diesem Anlaß gesagt wurde, geht nur Ingo und mich an.
Der Gong tönte durch den Garten. Die Familie war endlich wach. Kurz danach tranken wir zum zweitenmal Kaffee und aßen noch mehr von Grand-mères Superkuchen. Ingo hatte gerade meinen Eltern von seiner bevorstehenden Reise erzählt, als Grand-mère erschien. Ausgeruht, lächelnd, mit wachen, strahlenden Augen und einer feinen Röte in den Wangen.
Ingo sprang wie ein Blitz vom Sessel hoch, eilte Grand-mère entgegen und küßte ihr die Hand. Was er sagte, verstand ich nicht, denn er sprach Italienisch.
Das konnte ja gut werden! Wir würden dieses Wochenende ein sprachliches Durcheinander erleben! Grand-mère und Ingo italienisch. Grand-mère, Papa und ich französisch, Papa und Mama unter sich norwegisch. Mama außerdem französisch und italienisch – je nachdem – und ab und zu würden wir uns beim Deutschsprechen ausruhen können!
Mein einziger Trost war, daß Ingo nur wenig Italienisch konnte!
Aber die paar Worte, die er an Grand-mère richtete, waren anscheinend gut gewählt, denn sie strahlte wie die Sonne und teilte mir nach zwei Minuten auf französisch mit, daß sie meinen Auserkorenen reizend, charmant und äußerst sympathisch fände!
„Grand-mère“, schmunzelte Mama. „So habe ich dich nicht gesehen, seit ich mich mit Asbjörn verlobte!“
Grand-mère lächelte ihr verschmitztes Jungmädchenlächeln. „Ja, siehst du“, schmunzelte sie. „Das war nämlich auch Liebe auf den ersten Blick!“
Dies kam auf französisch. Ingos französische Sprachkenntnisse sind leider sehr mangelhaft, aber nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, hatte er diesen Satz verstanden.
Es wurde ein urgemütlicher Nachmittag. Mama erzählte
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