Alles muss versteckt sein (German Edition)
ist, will sie nicht schlafen. Vermutlich würde sie es ohnehin nicht können.
Ihr Blick fällt auf das Notebook auf dem Sekretär. Daneben liegt ein Zettel, Christopher hat Name und Passwort seines Internetzugangs aufgeschrieben. Marie zögert. Nur kurz, dann klappt sie den Computer auf und fährt ihn hoch. Fünf Minuten später ist sie online, ruft ihren Mailaccount auf und staunt, was sich dort angesammelt hat. Tausende von Spam-Nachrichten, dazwischen Anfragen von Journalisten, die ihre Adresse herausgefunden haben und wissen wollen, ob sie für ein Interview zur Verfügung steht. Ein paar Newsletter, drei oder vier Nachrichten von Bekannten, die trotz des Medienrummels nicht mitbekommen haben, was mit ihr passiert ist. Nur das, was Marie sucht, findet sie nicht. Keine Nachricht vom Forum, dass Elli ihr an ihr Postfach dort geschrieben hat. Nicht eine einzige.
Maries Bauch krampft sich zusammen, ihr ist klar, was das bedeutet: Elli weiß es. Sie weiß, dass Marie wegen Mordes verurteilt wurde, vielleicht hat sie es in der Zeitung gelesen oder im Fernsehen gesehen. Marie hatte Elli ja sogar ihren echten Namen verraten, und auch so wird ihre Netzfreundin sofort gewusst haben, um wen es in den Berichten ging. Deshalb keine Nachricht mehr von ihr. Weil sie wusste, dass Marie keine Mails mehr erreichen würden? Oder weil sie, wie so viele andere, Marie nun für ein Monster hält? Dann hatte sie offenbar noch nichts von den neuesten Entwicklungen gehört, von Felix’ Tod und der Wiederaufnahme des Verfahrens.
Mit eiligen Fingern tippt Marie die Forumsadresse ein, wartet, dass der Browser die Seite lädt, meldet sich an und öffnet das Postfach. Sie ruft die letzte Nachricht von Elli auf, die sie am Morgen der Premiere von »Romeo und Julia« gelesen und bisher nicht beantwortet hat. Dann schreibt sie los.
Liebe Elli,
ich denke, du weißt, wo ich so lange war, denn es stand ja überall in der Presse. Jetzt bin ich wieder zu Hause, besser gesagt wohne ich bei meinem Exmann. Das Gericht hat mich heute freigesprochen! Bitte melde dich bei mir, ich vermisse dich und habe dir unglaublich viel zu erzählen!
Deine Marie
Wieder scheint Elli genau in diesem Moment auch online zu sein. Keine dreißig Sekunden später ertönt das vertraute »Bling«, das den Eingang einer neuen Nachricht anzeigt. Marie klickt auf »Öffnen«. Und ist erstaunt. Denn es ist nicht Elli, die ihr da schreibt. Es ist eine automatisierte Antwort des Forumsadministrators: Der User Hamburg-Elli ist nicht mehr aktiv.
Christopher macht es Marie so leicht wie möglich, wieder in den Alltag zurückzufinden. Was er nur kann, nimmt er ihr ab, ob es ums Einkaufen, ums Kochen oder ums Putzen geht, sogar das Wäschewaschen übernimmt er. Bis sie ihm nach einer Woche sagt, dass es nicht gut für sie ist, wenn er sie wie eine Kranke behandelt, dass es ja eben darum geht, dass sie wieder eigenständig lebt.
Ihr gelingt es gerade noch, zu verhindern, dass ihr ein »So, wie Patrick es getan hat« herausrutscht. Christopher verspricht leicht beleidigt, sie ab sofort nicht mehr zu verhätscheln. Sein Angebot, sie zu den täglichen Therapiestunden zu fahren und draußen auf sie zu warten, bis sie fertig ist, nimmt sie trotzdem an. Auch wenn sie weiß, dass es nicht leicht ist für ihn, sein Leben und die Arbeit so um Marie herum zu organisieren. Doch zum einen hat sie kein Auto mehr, zum anderen fühlt sie sich noch zu unsicher, um sich allein in der Stadt zu bewegen, den Bus oder die U-Bahn zu nehmen und inmitten von fremden Menschen zu sitzen. Menschen, die sie neugierig anstarren, seit Fotos von ihr veröffentlicht wurden, wird sie hin und wieder erkannt.
Aber auch das passiert immer seltener, schon nach zwei Wochen kann sie mit Christopher durch einen Supermarkt gehen, ohne dass die Umstehenden sich gegenseitig anstupsen und verstohlen auf sie zeigen. Der Mensch vergisst schnell, nach einer kurzen Aufregung ist es nun ein anderes Thema, das die Allgemeinheit beschäftigt, vielleicht ein Massenmörder in Norwegen oder ein hoher Politiker, der wegen vermeintlicher Bestechung am Pranger steht. Marie ist froh. Froh darüber, dass für sie doch so etwas wie Normalität möglich sein kann.
Von Elli hat sie nichts mehr gehört, sie ist komplett von der Bildfläche verschwunden, und Maries Versuche, über das Internetforum ihren richtigen Namen oder eine andere E-Mail-Adresse herauszufinden, laufen ins Leere. Sie hat versucht, den Betreibern der Seite zu erklären,
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