Alles muss versteckt sein (German Edition)
die anderen stehen da, sehen zu, wie Marie überrannt wird, lachen und klatschen und johlen begeistert, trampeln sogar mit den Füßen.
Marie fühlt sich wie im Rausch, mit so einer Begrüßung hatte sie nicht gerechnet. Nicht damit, dass die Kinder sie so vermisst haben, ihre Kollegen ihr so deutlich zeigen, wie sehr sie Marie schätzen. Wie froh sie sind, dass sie wieder da ist. Marie ist überwältigt, kann die Tränen schon wieder nicht zurückhalten, muss gleichzeitig weinen und lachen vor Glück. Und während immer noch klebrige Kinderhände an ihr zerren, kleine Ärmchen sich um sie legen und helle Stimmen ihren Namen rufen, spürt sie ihr Herz. Ihr Herz, das geheilt ist. Denn das, wovor sie die größte Angst hatte, es tritt nicht ein. Keine schlimmen Gedanken mehr. Nicht ein einziger.
Als Marie am nächsten Morgen wieder in die Kita kommt, ist sie fröhlich und gut gelaunt. Den Abend zuvor hat sie mit Christopher beim Italiener gesessen, hat mit ihm bei einem Drei-Gänge-Menü ihren ersten erfolgreichen Arbeitstag gefeiert. Sie haben angestoßen, Christopher aus Solidarität mit Marie ebenfalls mit Apfelsaftschorle, denn sie hat beschlossen, vorerst keinen Alkohol mehr anzurühren. Sie will nichts riskieren, wird nichts tun, das es dem Kobold, dem Dämon erleichtern würde, sich wieder in ihrem Kopf breitzumachen.
Trotzdem war es schon kurz vor zwei, bis sie wieder in der Wohnung waren, weil Marie nicht müde wurde, ihm haarklein von jeder noch so unwichtigen Einzelheit zu berichten. Davon, wie sie mit ihrer Gruppe gebastelt hatte, wie die Kinder ihr stolz zwei neue Lieder vorgetragen hatten, vom Kuchen, den Jennifer zur Feier des Tages selbst gebacken hatte und darüber, dass die Kollegen ihr privates Fach die ganze Zeit frei gehalten hatten, weil alle sicher gewesen waren, dass sie zurückkommen wird. Christopher hatte sich mit ihr gefreut und immer wieder betont, wie stolz er auf sie sei.
Und stolz fühlt Marie sich auch, als sie jetzt die Kita betritt, so, als wäre es das Normalste auf der Welt. Sie hängt ihren Mantel an der Garderobe auf, ein paar Kids flitzen einfach an ihr vorbei und begrüßen sie nicht einmal. Marie muss lächeln. Besonders war gestern. Heute ist wieder normal.
»Guten Morgen!« Jennifer sitzt im Gruppenraum beim Frühstück mit den Kindern, die auf ihren Miniaturstühlen an ihren Miniaturtischen hocken und sich mit tapsigen Händen ein paar Brote streichen.
»Guten Morgen!« Marie nickt ihr zu. Die Kollegin ist gerade damit beschäftigt, Lena auf ihrem Schoß von einem Klumpen Tartex zu befreien, den das Mädchen sich entweder selbst in die Haare geschmiert oder von einem anderen Kind auf den Kopf gekleistert bekommen hat. Schön, denkt Marie, alles wirklich ganz herrlich normal! Sie kann nicht sagen, wann – wenn überhaupt – sie sich das letzte Mal so sehr über ein bisschen vegetarischen Brotaufstrich in Kinderhaaren gefreut hat.
Marie hockt sich zusammengefaltet auf einen Ministuhl und betrachtet zufrieden die Frühstücksszene.
»Fehlen da nicht ein paar?«, fragt sie Jennifer, als sie beim Durchzählen nur auf sechzehn anstelle der üblichen fünfundzwanzig Kinder ihrer Gruppe kommt.
»Ja«, antwortet Jennifer und kämpft weiter mit Lenas Haaren, »Emil und Paul kommen heute später, die restlichen sieben sind krank.«
»Krank? Gleich sieben?«
»Ich hab’s auch nur von Tanja gehört, die hat die Anrufe angenommen.« Sie zuckt mit den Schultern. »Magen-Darm, das Übliche.« Jennifer wirkt ein bisschen nervös, als hätte sie Sorge, sich angesteckt zu haben. Das passiert schnell, ein Kindergarten ist ein regelrechter Bazillenherd. Marie erinnert sich an ihre Anfänge als Erzieherin, da lag sie ständig flach, bis ihr Immunsystem sich an die kleinen Virenschleudern gewöhnt hatte.
»Hoffentlich grassiert das jetzt nicht«, sagt sie.
»Das hoffe ich auch.« Lena zappelt auf Jennifers Schoß herum und teilt mit lautem Protest mir, dass es an den Haaren ziept. »Mir war heute früh auch schon ganz flau im Bauch«, sagt die Kollegin und versucht, das Kind zu bändigen.
»Na ja.« Marie zuckt mit den Schultern. »Spätestens heute Nachmittag wissen wir es. Aber wird schon nicht so schlimm sein.«
Am nächsten Tag fehlen zwei weitere Kinder wegen Magen-Darm-Infekt. Einen Tag später noch eins, am vierten Tag sind es schon zwölf.
»Seltsam«, sagt Marie, als sie vom Flurtelefon zurück in den Gruppenraum kommt, nachdem noch jemand angerufen und sein Kind
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