Alles muss versteckt sein (German Edition)
bisschen Trost in der Dunkelheit, mehr war es nicht, nicht für ihn und nicht für sie.
Doch dann irgendwann, nach ein paar Monaten, ohne dass er bewusst darüber nachgedacht hätte, veränderte es sich. Irgendwann war es nicht mehr nur das unschuldige Aneinanderschmiegen, irgendwann merkte er, dass sie etwas ihn ihm auslöste. Dass sich in ihm etwas regte, und erst als sie ihn einmal im Schlaf aus Versehen mit ihrer Hand zwischen den Beinen berührte, wusste er, was es war:
Lust.
Er verspürte Lust, wenn sie bei ihm war, Lust, wenn sie so dicht neben ihm lag, dass ihr süßer Duft ihn voll und ganz umhüllte, ja, ihn regelrecht erfüllte. Im ersten Moment war er erschrocken über sich selbst, wollte sie aufwecken oder schlafend rüber in ihr eigenes Bett tragen. Aber gleichzeitig wollte er ihren weichen Körper weiter spüren, wollte sie, die er doch so sehr liebte, nicht aus seinem Bett verscheuchen. Liebe, das war es, was er für sie empfand. War es da verwerflich oder nicht sogar ganz normal, dass sich in seine Liebe auch ein Lustgefühl mischte? Wo war die Grenze? Er legte beide Arme um sie, zog sie so fest an sich, dass es ihm unmöglich war, sie irgendwo anders zu berühren, dort, wo sie es vielleicht nicht gewollt hätte.
Ein paar Wochen lang blieb es so, nachts kam sie zu ihm, schlief auf seine Brust gebettet ein, während er sie fest mit beiden Armen umschlungen und sich damit selbst im Zaum hielt. Doch dann, als er einmal gegen Morgen erwachte, ihren heißen Atem auf seinem Gesicht spürte und ihre Hand schon wieder gefährlich nah neben der Stelle lag, wo er sie am meisten hinsehnte, wurde ihm klar, dass die Grenze zwischen Liebe und Lust sich auflöste. Wenn er sie jetzt nicht wegschickte, würde er diese Grenze überschreiten. Ganz vorsichtig, als wolle er sich selbst nur ein wenig testen, beugte er sich über sie und fing an, sie zärtlich zu küssen. Vorsichtig, aber alles andere als harmlos, das wusste er, auch wenn er sich Mühe gab, sich selbst das Gegenteil einzureden.
Sie wurde wach, war im ersten Moment verwirrt, wusste nicht, wie ihr geschah, und sah ihn aus ängstlichen Augen an. Aber nicht nur Angst meinte er darin zu lesen. Nein, er war sich sicher, auch bei ihr dieselbe Lust zu entdecken, die schon eine Weile wie ein Schwelbrand in ihm war. Trotzdem rückte sie ab von ihm, krabbelte aus seinem Bett und verschwand in ihrem Zimmer. Ließ ihn voller Scham und Schuldgefühlen zurück.
Drei Nächte später war sie wieder da. Sagte nichts, schmiegte sich einfach an ihn und erwiderte diesmal seinen Kuss, als er es noch einmal versuchte. Die Grenze war überschritten, ein für alle Mal. Und so gingen sie Nacht für Nacht weiter, erkundeten gemeinsam immer neues Terrain in diesem unbekannten Land, das sie zusammen entdeckt hatten. Er wusste, dass es falsch war, was sie taten, und doch konnte er nicht anders, wurde süchtig danach, mehr und mehr. Nicht nur nach ihren Berührungen, sondern auch nach dem Geheimnis, das sie miteinander teilten. Und es war ein Geheimnis, das war auch ihr klar, selbst wenn sie es niemals sagte. Unausgesprochen hatten sie einen Pakt geschlossen, einen Pakt darüber, dass sie es niemals jemandem sagen würden. Niemandem. Denn das konnten sie nicht. Nicht als Bruder und Schwester. Und nicht als die Kinder, die sie noch waren.
»Das ist gut«, war meine erste und wohl ziemlich verwirrte Reaktion, nachdem ich Patricks Buch sinken ließ. Ich war schockiert und fasziniert zugleicht. Sein erster Roman handelte ausgerechnet von einer Geschwisterliebe?
»Ja«, sagte Patrick. »So gut, dass damals fast alle glaubten, ich hätte mir das nicht nur ausgedacht.« Er sah mich unsicher an, fast so, als würde er sich schämen. »Vera eingeschlossen«, fügte er hinzu.
»Vera?« Er nickte.
»Sie dachte, das wäre wirklich passiert, als sie ein Kind war, und sie hätte es vergessen. Ich habe lange gebraucht, um sie davon zu überzeugen, dass ich sie nie angerührt habe.«
»Hat sie das denn ernsthaft gedacht?«
»Eigentlich nicht«, sagte er. »Aber das Gerede, das aufkam, nachdem ich den Roman veröffentlicht hatte, hat sie ziemlich verunsichert.«
»Verstehe.«
»Ich bin damals sogar zusammen mit Vera zu ihrem Therapeuten gegangen, um ihr dort zu versichern, dass ich ihr nie etwas angetan habe.«
»Vera ist in Therapie?«
»Das war sie«, antwortete Patrick. »Seit der Pubertät ging es meiner Schwester eine Zeit lang nicht so gut. Sie hatte Angstanfälle, Panikattacken.«
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