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Alles muss versteckt sein (German Edition)

Alles muss versteckt sein (German Edition)

Titel: Alles muss versteckt sein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wiebke Lorenz
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Kinn und zwang mich, ihn und das Messer wieder anzusehen. »Nimm es!« Damit drückte er mir den Griff in die Hand, wie im Reflex umklammerte ich die Waffe, hielt sie zitternd und heulend fest, versuchte die Bilderflut, die allein das Gefühl, es in der Hand zu halten, in mir auslöste, zu stoppen. Bilder, Bilder, Bilder, noch schlimmer, als ich sie jemals zuvor gesehen hatte. Vor meinem inneren Auge sah ich mich über Patricks toten Körper gebeugt, sah, wie ich ihm Hände, Füße, Beine und Arme mit dem Fleischermesser abtrennte, wie ich seinen Kopf abhackte, seine Wirbelsäule durchtrennte, bis nur noch sein blutüberströmter Rumpf vor mir lag.
    »Nein! Nein! Nein!« Ich warf meinen Kopf hin und her, schaumiger Speichel, der sich vor meinem Mund gesammelt hatte, flog durch die Küche, bespritzte mich und Patrick, der nicht einen Millimeter zurückwich, sondern wie ein Fels vor mir stehen blieb, meine freie Hand, die ihn wegstoßen wollte, mit seiner wie in einem Schraubstock umklammert hielt. »Nein!«
    »Halt es aus«, sagte Patrick ruhig. »Halt es einfach nur aus. Es geht vorbei, bitte glaub mir! Du musst es nur einen Moment aushalten, dann geht es vorbei.« Aber es ging nicht vorbei, noch immer zitterte ich, als hätte man mich unter Starkstrom gesetzt, noch immer tobte der unwiderstehliche Drang in mir, Patrick die Klinge in den Bauch zu rammen.
    »Es hört nicht auf«, wimmerte ich, »es hört einfach nicht auf!«
    »Doch, das wird es. Vertrau darauf.« Als hätte er nicht mit mir, sondern mit meinem Zwang gesprochen, als hätte er eine geheime Beschwörungsformel gefunden, um ihn im Zaum zu halten, ließ das Zittern mit einem Mal tatsächlich nach.
    Noch zuckten und zerrten die Schreckensbilder an mir, als wollten sie den Kampf nicht so ohne Weiteres aufgeben, aber ich spürte, wie der Dämon in mir schwächer und schwächer wurde, wie er anfing zu kapitulieren, zu kapitulieren vor diesem Widerstand, der ihm plötzlich entgegengesetzt wurde.
    »Siehst du?«, flüsterte Patrick, als er merkte, dass ich mich ein wenig beruhigte, »es hört auf. Es hat keine Macht über dich, es kann dir nichts anhaben, wenn du dir nur selbst vertraust.« Ich sah auf das Messer, das ich noch immer hielt. Und als würde mich all meine Kraft in diesem Moment verlassen, ließ ich es los, sodass es klirrend zu Boden fiel.
    Fassungslos starrte ich auf die Waffe, die da zu meinen Füßen lag. Ein Messer, es war einfach nur ein simples Küchenmesser, nichts weiter. Ich hatte Patrick nicht damit getötet, das hatte ich nicht. In Gedanken, ja, da hatte ich es getan. Aber ich hatte die Gedanken ausgehalten und sie damit besiegt, sie waren nicht stärker als ich gewesen, ich hatte mich unter Kontrolle, hatte dem Zwang mit Patricks Hilfe die Stirn geboten.
    Ich wusste nicht, was genau Patrick Vera und Felix erzählt hatte, er hatte mir versprochen, ihnen nicht zu sagen, woran ich litt. Aber irgendeine Erklärung musste er ihnen gegeben haben, denn als ich sie ein paar Tage später wieder sah, verhielten sich beide absolut normal. Als wäre nichts gewesen. Sie zeigten auch keine Spur dieser falschen Freundlichkeit, die ich nach Celias Tod so oft erleben musste und bei der ein unüberhörbares »Sei nett zu der Armen!« mitschwang. Eine Art von Freundlichkeit, die mich erst recht zu einer Aussätzigen stempelte. Wie auch immer Patrick das hinbekommen, was auch immer er ihnen erzählt hatte – ich war ihm unendlich dankbar dafür.
    Überhaupt konnte ich nicht fassen, was er seit meinem Geständnis alles für mich tat. Oder, besser gesagt: was er nicht tat. Er hatte sich informiert, hatte alles Mögliche gelesen über diese seltsame Krankheit, die mich quälte, und verhielt sich mir gegenüber genauso, wie es in jedem praktischen »Leben mit einem Zwangserkrankten«-Ratgeber nachzulesen ist. Eben, indem er mich nicht vor heiklen Situationen schützte. Indem er nicht mein »Komplize« wurde, der versuchte, mir vermeintlich alles zu erleichtern, sondern indem er mich im Gegenteil dazu zwang – ja, auch das war ein Zwang, aber ein hilfreicher – mich wieder mit der »echten« Welt auseinanderzusetzen.
    Ich musste mit ihm zusammen kochen und dabei Gemüse schneiden. Einkaufen gehen und im Supermarkt ausgerechnet die Kasse wählen, an der eine Mutter mit ihren zwei Kleinkindern stand. In der U-Bahnstation sorgte Patrick dafür, dass er beim Einfahren des Zuges direkt vor mir stand und witzelte darüber, dass ich ihn jederzeit auf die Gleise

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