Alles Sense
Herr Kuchen – diegötterseienseinerseelegnädig – hatte bei Vollmond nie auch nur gepfiffen, und Evadne ahnte, daß ihre Tochter eine Rückentwicklung zur fernen Familienvergangenheit in den Bergen darstellte. Oder… Vielleicht hatte sie sich als Kind mit Genetik angesteckt. Frau Kuchen glaubte, sich an gewisse Anspielungen ihrer Mutter zu erinnern: Angeblich hatte Großonkel Erasmus seine Mahlzeiten ab und zu unter dem Tisch einnehmen müssen. Wie dem auch sei: In drei von vier Wochen war Ludmilla eine ganz normale junge Frau, und den Rest der Zeit verbrachte sie als wohlerzogener Wolf.
Priester neigten häufig dazu, die Sache aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Ganz gleich, welche Geistlichen 12 zwischen ihr und den Göttern zu vermitteln versuchten – früher oder später kam es zu einer Auseinandersetzung. Da Frau Kuchen aufgrund ihrer starken Persönlichkeit schon nach kurzer Zeit alle religiösen Routineaufgaben übernahm – sie sorgte immer für frische Blumen, wischte den Staub vom Altar, fegte den Tempel, kratzte den Opferstein sauber, hielt Jungfernwache, stopfte das Betkissen und so weiter –, verursachte ihre plötzliche Abwesenheit immer ein ziemliches Durcheinander.
Nun knöpfte sie ihren Mantel zu.
»Es klappt nicht«, meinte Ludmilla.
»Ich versuch’s bei den Zauberern – sie sollten Bescheid wissen«, erwiderte Frau Kuchen. Sie fühlte sich sehr wichtig und zitterte vor Aufregung, wirkte dadurch wie ein nervöser Fußball.
»Du hast doch gesagt, die Zauberer hören nie zu«, wandte Ludmilla ein.
»Trotzdem, ich muß es versuchen. Da fällt mir ein: Warum bist du nicht in deinem Zimmer?«
»Ach, Mutter. Du weißt doch, daß ich den Raum verabscheue. Es ist nicht nötig, daß ich…«
»Man kann nie vorsichtig genug sein. Angenommen, es käme dir plötzlich in den Sinn, nach draußen zu gehen und irgendwelchen Hühnern nachzujagen… Was würden die Nachbarn sagen?«
»Ich habe nie den Drang verspürt, Hühner zu jagen, Mutter«, entgegnete Ludmilla geduldig.
»Oder Karren nachzulaufen oder zu bellen.«
»Du meinst Hunde, Mutter.«
»Du gehst jetzt in dein Zimmer, schließt dich ein und nähst, wie es sich für ein braves Mädchen gehört.«
»Du weißt doch, daß ich die Nadeln mit den Pfoten nicht richtig halten kann.«
»Versuch’s deiner Mutter zuliebe.«
» Ja , Mutter«, sagte Ludmilla.
»Und halte dich vom Fenster fern. Wir wollen doch nicht, daß jemand einen Schreck bekommt.«
»Ja. Mutter. Und du achte darauf, daß deine Vorahnung eingeschaltet ist. Du weißt ja, daß du nicht mehr so gut siehst wie früher.«
Frau Kuchen wartete, bis ihre Tochter die Treppe hochgegangen war. Dann schloß sie die Haustür ab und schritt in Richtung Unsichtbare Universität, wo angeblich eine Menge Unfug geschah.
Wer sie unterwegs beobachtete, bemerkte einige seltsame Dinge. Zwar schwankte sie gelegentlich und wandte sich manchmal ohne ersichtlichen Grund nach rechts oder links, aber nie stieß jemand gegen sie. Die Passanten gingen ihr nicht in dem Sinne aus dem Weg – Frau Kuchen hielt sich einfach nicht dort auf, wo sie waren. Einmal zögerte sie und trat in eine Gasse. Zwei oder drei Sekunden später rollte ein großes Faß von einem Wagen und prallte dort auf den Boden, wo Evadne eben noch gestanden hatte. Sie trat aus der Gasse, stieg über das gesplitterte Holz hinweg und grummelte leise vor sich hin.
Frau Kuchen grummelte recht oft. Ihr Mund blieb immerzu in Bewegung, als sei sie dauernd bestrebt, den Kern irgendeiner gräßlichen Frucht aus einem hohlen Zahn zu entfernen.
Nach einer Weile erreichte sie das hohe, schwarze Tor der Universität, verharrte dort und schien einer inneren Stimme zu lauschen.
Dann trat sie beiseite und wartete.
Bill Tür lag in der Dunkelheit des Heubodens und wartete ebenfalls. Weiter unten erklangen typische, von Binky verursachte Pferdegeräusche: Schnauben, das Knistern von Stroh, verhaltenes, leises Kauen.
Bill Tür. Jetzt hatte er also einen Namen. Natürlich war er nie namenlos gewesen, doch die frühere Bezeichnung bezog sich auf seine Funktion, nicht auf ihn als Individuum. Bill Tür. Es klang gut. Herr Bill Tür. William Tür. Billy… Nein, nicht Billy.
Er rutschte etwas tiefer ins Heu, griff in eine Tasche seines Umhangs und holte die goldene Lebensuhr hervor. Die obere Hälfte enthielt eindeutig weniger Sand als vorher. Er verstaute das Gefäß wieder.
Und dann das »Schlafen«. Er wußte natürlich, was es damit auf
Weitere Kostenlose Bücher