Alles Sense
sich hatte. Normalsterbliche schliefen häufig und sogar ziemlich lange. Sie legten sich hin, und dann geschah der Schlaf einfach. Vermutlich diente dieses Phänomen einem bestimmten Zweck. Bill Tür wartete gespannt darauf, bereit zu einer gründlichen Analyse.
Nacht glitt über die Welt, und ihr folgte sofort ein neuer Tag.
Im Hühnerstall auf der anderen Seite des Hofs bewegte sich etwas.
»Kicke…krr.«
Bill Tür blickte nach oben.
»Kickerie…krr.«
Graues Licht fiel durch die Spalten zwischen den Brettern.
Aber eben hatte er noch das rote Licht des Sonnenuntergangs gesehen!
Sechs Stunden waren verschwunden.
Bill holte die Lebensuhr hervor. Ja, die obere Hälfte enthielt jetzt noch etwas weniger Sand. Während er auf die Erfahrung des Schlafens gewartet hatte, war etwas gekommen, um ihm einen Teil seines… seines Lebens zu stehlen – ohne daß er etwas davon merkte.
»Kickerie…krr.«
Er kletterte vom Heuboden herunter und trat nach draußen, in den vagen Dunst der Morgendämmerung.
Die älteren Hühner richteten argwöhnische Blicke auf ihn, als er in den Stall sah. Ein greiser und recht verlegen wirkender Hahn starrte ihn kurz an, senkte dann den Kopf und zuckte mit den Schultern.
Beim Haus klapperte etwas. Neben der Tür hing ein alter Eisenring, der von einem Faß stammte, und Frau Flinkwert schlug hingebungsvoll mit einer Schöpfkelle darauf ein. Bill Tür ging los, um sich die Sache aus der Nähe anzusehen.
WARUM MACHST DU EINEN SOLCHEN LÄRM, FRAU FLINKWERT?
Sie wirbelte herum, die Schöpfkelle halb erhoben.
»Meine Güte, mußt du wie eine Katze gehen?« entfuhr es der Frau.
MUSS ICH DAS?
»Ich meine, ich habe dich nicht kommen gehört.« Frau Flinkwert trat zurück und musterte die hochgewachsene Gestalt von Kopf bis Fuß.
»Irgend etwas an dir kommt mir noch immer seltsam vor, Bill Tür«, sagte sie. »Aber ich weiß einfach nicht, was es ist.«
Das mehr als zwei Meter große Skelett musterte sie mit unerschütterlicher Gelassenheit und schwieg. Ein Kommentar erübrigte sich.
»Was möchtest du zum Frühstück?« fragte die Alte. »Obgleich deine Wünsche eigentlich gar keine Rolle spielen: Es gibt nur Haferbrei.«
Später dachte sie: Er muß das Zeug gegessen haben, denn der Teller ist leer. Aber warum erinnere ich mich nicht daran?
Und dann die Sache mit der Sense. Zuerst erweckte er den Anschein, nie zuvor eine gesehen zu haben. Sie zeigte ihm, wie man damit umging, und er sah ihr mit höflichem Interesse zu.
WIE SCHÄRFST DU DIE SENSE, FRAU FLINKWERT?
»Meine Güte, sie ist scharf genug.«
WIE KANN MAN SIE NOCH SCHÄRFER MACHEN?
»Scharf ist scharf. Schärfer als scharf geht nicht.«
Er holte versuchsweise damit aus und murmelte enttäuscht etwas.
Und dann das Gras…
Die Heuwiese befand sich oben am Hang des Hügels hinter der Farm, und von dort aus hatte man einen weiten Blick übers Kornfeld. Frau Flinkwert beobachtete ihren neuen Gehilfen eine Zeitlang.
Eine solche Methode hatte sie nie zuvor gesehen. Sie wäre nicht einmal bereit gewesen, so etwas für möglich zu halten.
Schließlich sagte sie: »Gut. Du schwingst die Sense richtig und so.«
DANKE, FRAU FLINKWERT.
»Aber warum immer nur einen Grashalm?«
Bill Tür betrachtete das Gras eine Zeitlang.
GIBT ES AUCH EINE ANDERE MÖGLICHKEIT?
»Man kann gleich mehrere auf einmal schneiden.«
NEIN. NEIN. JEWEILS EIN HALM. NUR IMMER EINER.
»Auf diese Weise schaffst du nicht viel«, gab Frau Flinkwert zu bedenken.
OH, ICH SCHAFFE SIE ALLE. BIS ZUM LETZTEN HALM. GLAUB MIR.
»Bist du sicher?«
JA. VERTRAU MIR.
Frau Flinkwert überließ ihn der Arbeit und kehrte zum Haus zurück. Von Küchenfenster aus blickte sie zu der fernen, dunklen Gestalt und sah, wie Bill Tür langsam über den Hang wanderte.
Was mag er ausgefressen haben? überlegte sie. Bestimmt hat er etwas auf dem Kerbholz. Ja, er gehört zu den Männern, die ein Geheimnis haben. Vielleicht hat er einen Raubüberfall begangen und beschlossen, hier bei mir ›unterzutauchen‹.
Schon eine ganze Reihe hat er geschnitten. Jeweils nur ein Halm. Und doch ist er irgendwie schneller als jemand, der Bahn für Bahn schneidet…
Frau Flinkwerts einzige Lektüre bestand aus einer Publikation namens Almanach und Saatkatalog für den Farmer. Wenn niemand krank wurde, reichte das Ding für ein ganzes Jahr im Abort. Es bot nicht nur Informationen über Mondphasen und geeignete Saatzeiten, sondern berichtete auch detailliert über Massenmörder, blutige
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