Alles Sense
unauffällig versuchte, den Sinn in der Bemerkung des Schwarzen Manns zu entschleiern. Dann begriff er, daß derartige Verhaltensweisen überhaupt nicht mehr nötig waren. So hätte er als Lebender reagiert, und ganz gleich, was Reg Schuh behauptete und glaubte: Stolz zu sein fiel einem Toten schwer. Leichen mochten ein wenig steif sein, aber nicht stolz.
»Hab nie was davon gehört«, entgegnete er. »Warum sammelt sich die Lebenskraft an?«
»Keine Ahnung«, sagte Schleppel. »Sehr ungewöhnlich für die Jahreszeit. Inzwischen müßte es eigentlich ruhiger werden.«
Einmal mehr erbebte der Boden. Die gelockerte Diele, unter der sich Windles Ersparnisse verborgen hatten, knarrte laut und entwickelte Triebe.
»Ungewöhnlich für die Jahreszeit?« wiederholte er verwundert.
»Im Frühling ballt sich besonders viel Lebenskraft zusammen«, erklärte Schleppel. »Sie treibt die Narzissen aus dem Boden und so.«
»Davon höre ich jetzt zum erstenmal«, sagte Windle fasziniert.
»Ich dachte, ihr Zauberer wißt immer über alles Bescheid.«
Poons betrachtete seinen Zaubererhut. Die Beerdigung und das Tunnelgraben waren nicht ohne Folgen für ihn geblieben, aber das Objekt erfüllte bereits seit mehr als einem Jahrhundert den Zweck einer Kopfbedeckung, und schon ganz zu Anfang hatte es nur geringsten ästhetischen Ansprüchen genügt.
»Nun, man lernt nie aus«, erwiderte er.
Ein neuer Tag begann. Der Hahn Cyril erwachte aus seinem Schlummer.
Die mit Kreide geschriebenen Worte glühten im Morgengrauen.
Cyril konzentrierte sich.
Er holte tief Luft.
»Grieglega-Lah!«
Das Problem mit dem schlechten Gedächtnis war zwar gelöst, aber jetzt hatte er gewisse legasthenische Schwierigkeiten.
Oben am Hang wehte der Wind mit mehr Begeisterung, und die Sonne brannte heißer. Bill Tür schritt durch das leidgeprüfte Gras, pflügte wie ein Boot durch grüne Wellen.
Er fragte sich, ob er Wind und Sonne auch zuvor gefühlt hatte. Ja, das war zweifellos der Fall gewesen. Aber er hatte diese Phänomene nie auf diese Weise zur Kenntnis genommen, er hatte sie nie erlebt. Jetzt zerrten die Böen an seiner Gestalt, und im Gleißen der Sonne schien es immer wärmer zu werden. Man konnte spüren, wie die Zeit verstrich.
Wie sie einen mit sich trug.
Jemand klopfte leise und zurückhaltend an die Scheunentür.
JA?
»Komm herunter, Bill.«
Er kletterte durch Finsternis und öffnete vorsichtig die Tür.
Frau Flinkwert stand draußen, und mit der einen Hand schirmte sie eine Kerzenflamme ab.
»Äh«, sagte sie.
WIE BITTE?
»Du kannst ins Haus kommen, wenn du möchtest. Für den Abend. Natürlich nicht für die Nacht. Ich meine, wenn ich daran denke, daß du hier allein bist, während ich es im Haus am Kaminfeuer gemütlich habe und so…«
Bill Tür verstand sich nicht besonders gut darauf, Gesichtsausdrücke zu deuten – diese Fähigkeit hatte er nie gebraucht. Ein schiefes Lächeln zeigte sich in Frau Flinkwerts erstarrten Zügen, und er betrachtete es wie ein Pavian, der den Stein von Rosette zu lesen versucht.
DANKE, sagte er schließlich.
Die alte Dame eilte fort.
Als Bill kurze Zeit später das Haus betrat, traf er in der Küche niemanden an. Er vernahm leises Knistern und Knacken, folgte diesem Geräusch durch einen schmalen Flur und bückte sich durch eine für ihn zu niedrige Tür. Frau Flinkwert hockte auf Händen und Knien, versuchte ganz offensichtlich, ein Feuer im Kamin zu entzünden.
Sie sah verlegen auf, als er an den Türrahmen klopfte.
»Für einen allein lohnt sich die Mühe mit dem Feuer nicht«, erklärte sie unsicher. »Setz dich. Ich koche uns Tee.«
Bill Tür hockte sich auf einen schmalen Stuhl neben dem Kamin und ließ den Blick durchs Zimmer schweifen.
Es handelte sich um einen ungewöhnlichen Raum. Wozu auch immer er diente: Er schien kaum dafür bestimmt zu sein, daß sich jemand längere Zeit in ihm aufhielt. Die Küche war eine Art überdachtes Draußen und das Zentrum aller Aktivitäten auf der Farm, doch diese Kammer ähnelte einem Mausoleum.
Es mag überraschen, aber Bill Tür war keineswegs mit dem üblichen Trauerdekor vertraut. Normalerweise starb niemand in einem Grab, von wenigen tragischen Ausnahmen abgesehen. Am unteren Ende von Klippen, am Grund von Flüssen, auf halbem Wege zum Magen eines Hais, diverse Schlafzimmer, ja – Gräber, nein.
Seine Aufgabe bestand darin, den Weizen der Seele von der Spreu des Körpers zu trennen. Für gewöhnlich war diese Sache
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