Alles über Sally
präziser: Nichts konnte Alfred ändern. Die Symptomatik seines Verhaltens war Sally genaugenommen vertraut, sie kannte ihren Mann, den Mann und die Mechanismen dahinter, sie kannte ihn wie ein Uhrmacher sein liebstes Stück. So dumm, zu glauben, dass sie ihn noch umkrempeln konnte, war sie nicht, die Flitterwochen lagen schon einige Jahre zurück.
Auch an diesem Morgen fand Alfred bald nach dem Aufstehen zu seinem alles beherrschenden Thema. Mit hängenden Hosenträgern stellte er sich in den Türrahmen und schaute Sally eine Weile dabei zu, wie sie mit der Stehleiterzwischen den Beinen den schmatzenden Farbroller oberhalb des Fensterrahmens über die Wand führte. Sie machte rasch Geländegewinne, in großen Schwüngen verteilte sie die Farbe, bis das schmatzende Geräusch leiser und schließlich vom Rasseln der Rolle übertönt wurde. Sally spürte Alfreds Blick im Rücken. Als sie die Rolle wieder in den Eimer tauchte und sich dabei Alfred zuwandte, fragte er, wie es ihr gehe. Sie sagte, sie sei müde, worauf er meinte, das sei er auch. Tolle Unterhaltung. Nach einem Zögern ging er kurz weg, er drehte eine Runde im Haus. Sally hörte in der Küche die Kühlschranktür, wenig später das Rascheln der Zeitung, in der sich Alfred über den Zustand der Welt informierte, ob es ihr schon besser ging. Unverändert schlecht. Also kam er mit verdrossener Miene zurück und setzte Sally in unverlangter Ausführlichkeit auseinander, was ihn grad beschäftigte.
Ob es sich bei dem Einbruch um eine bloße Manifestation der Wahrscheinlichkeitsgesetze handelte, weil das Haus an der Reihe war. Ob sie vielleicht Feinde hatten oder ob es jemanden gab, der alle Bewegungen verfolgte und über den Rhythmus der Familienaktivitäten Bescheid wusste und somit über den besten Moment, um zuzuschlagen. Ob jemand ins Haus gekommen war, den sie kannten, Freunde von Gustav zum Beispiel, die wussten, dass alle Familienmitglieder in den Ferien waren und dass Gustav teure Elektrogeräte und Computerspiele besaß, aus denen leicht Geld zu machen war. Oder: Ob sie in einem bedeutsameren und komplexeren Universum lebten, in dem der Hang zum Materialismus die Bewohner des Hauses bis hierher geführt und bestraft hatte.
Weil ein Teil von ihr sich bereits nicht mehr mit diesen Dingen befassen wollte, hatte Sally Alfred nicht unterbrochen, um keine zusätzlichen Details zu provozieren. Schließlich konnte sie es sich aber nicht verkneifen zu sagen:
»Zumindest gibt es etwas Höheres als Hausrat.«
Und wie als neuerlicher Beweis für die umständliche und irrationale Art, in der sein Geist arbeitete, antwortete Alfred:
»Deshalb geht’s mir auch so mies.«
»Also musst du deine eigene Rechnung aufmachen«, sagte Sally. »Ich bin gesund und intelligent und ich habe drei wunderbare Kinder. Ist das so schwer?«
»Ja.« Seufzen, kleine Verzögerung. »Weil, so gesund bin ich auch wieder nicht. Und was die Kinder betrifft …« Neuerliches Seufzen, kleine Verzögerung. »Aber gut, damit wirst du schon recht haben.«
»Und eine Frau, die alles in Ordnung bringt«, fügte Sally herausfordernd hinzu.
»Oberflächlich, Sally, oberflächlich«, kommentierte er traurig.
»Es ist wirklich ein Elend mit dir«, sagte Sally.
Mit noch immer hängenden Hosenträgern stand Alfred hilflos da. Sally fragte sich, wofür er die Hosenträger überhaupt brauchte, wenn die Hosen auch ohne sie hielten. Sie hatte sowieso den Verdacht, dass Alfreds Kleidung, seit er Gewicht zugelegt hatte, zu eng war und ihm auf den Bauch drückte und dass er auch deshalb ständig schlechte Laune hatte. Aber davon wollte er natürlich nichts wissen. Sally senkte ihren Blick zu Alfreds Füßen, rechts der Gummistrumpf,grau, wie schon an den Vortagen. Die Invalidität wurde weiter zelebriert. Der linke Fuß spreizte nackt seine fünf gelben Zehen.
»Wenn du mir hilfst, ich könnte einen Handlanger brauchen«, sagte sie. »Die Arbeit würde dich vor Schlimmerem bewahren, während sie mich nur von Besserem abhält.«
»Wovon?« fragte Alfred ängstlich.
»Vom Nichtstun. Von den Ferien, die ich dringend nötig hätte.«
Er brummte zögernd, hob den Arm, kratzte sich am Kopf, steckte die Nase unter die rechte Achsel und schnupperte.
»Gib dir einen Ruck, Alfred«, sagte sie. »Na komm schon, damit du nicht so viel an deinen Ärger denkst.«
»Ich muss mich duschen«, sagte er. Und ohne ein weiteres Wort verzog er sich ins Bad. Sally hörte die Tür einschnappen, wenig später konnte
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