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Alles Umsonst

Titel: Alles Umsonst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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ganze Welt stand einem doch offen?
    Aber wohin? wohin? das war die Frage. Wohin hätte man fahren sollen?
     
    Rätsel: Die großen Fragen der Menschheit. Wenn Dr. Wagner darauf zu sprechen kam, lehnte er sich zurück und sah in die Ferne: Woher kommen wir? Worauf läuft’s hinaus mit uns? Fragen waren das, die er sich in seinen siebzig Lebensjahren schon öfter einmal gestellt hatte, deren Lösung er jedoch um keinen Deut näher gekommen war. Daß man vollenden müsse, was in einem angelegt sei, war vielleicht das der Sinn des Lebens? Vollendung anstreben im Goetheschen Sinne.
    Wenn er jetzt so einsam in seiner Stube sitze, denke er oft an die schönen Zeiten, zu Haus, und wie er am Pregel mit seiner Mutter gebratene Flundern gegessen. Und ihm tue es leid, nicht freundlicher zu ihr gewesen zu sein ...
    «Die Zeit, die Zeit, man kann sie nicht zurückdrehen, mein Junge ... », und er stand auf und sah sich die Kuckucksuhr an, wie der Pendel so rasch dahinschwingt, von links nach rechts und umgekehrt, und schon öffnet sich das Türchen, und der Kuckuck schreit heraus, ob man es hören will oder nicht.
     
    Rätselhaft war ihm so manches. Die Unterschiede zwischen den Menschen ... von Mann und Frau mal ganz abgesehen. Deutsche zum Beispiel und Russen ... Die Deutschen sauber, fleißig, gerecht ... Dagegen die Russen, faul, dreckig, grausam? Aber auch umgekehrt: Die Russen im Prinzip gutmütig, und die Deutschen ... Da gab es neuerdings eben manches, was unverständlichwar, worüber man hier und jetzt aber nicht sprechen wollte. Sachen, die doch an sich gar nicht nötig waren? «Rätsel», ein schönes deutsches Wort, nicht die großen Menschheitsf ragen betreffend, sondern eher die kleinen, die dann freilich zusammengenommen die eine große Frage ergäben: Warum?
     
    Es gab Sachverhalte, bei denen kannte Dr. Wagner sich gar nicht so richtig aus, da kam er ja direkt durcheinander, das waren oft ganz einfache Angelegenheiten. Aber auch das gehörte zum Bildungsplan des Pädagogen: Es gibt eben Dinge, bei denen sich selbst ein Erwachsener nicht so richtig auskennt, das sollte daraus hervorgehen. Aber das sagte er Peter natürlich nicht. Er überließ es dem Jungen, zu Ergebnissen zu kommen, auch wenn sie ganz verkehrt waren.
     
    Das Hauptaugenmerk richtete Dr. Wagner als Germanist auf die deutsche Sprache, er ließ Peter Gedichte aufsagen, und er zeichnete mit seinem silbernen Crayon Punkte und Striche auf die Verse im Gedichtbuch, Hebungen und Senkungen, auch das muß man sich mal merken, was ein großer Atem ist ...
     
    Von férn ein Schéin, wie ein brénnendes Dórf,
    Máttdüsterer Glánz auf den Láchen im Tórf ...
     
    Im Atemholen liege zweierlei Gnaden und so weiter und so weiter.
     
    Auf seine Anregung hin schrieb Peter einen langen Aufsatz über Georgenhof. Der beschäftigte ihn tagelang: «Meine Heimat». Erlebnisse und Vorkommnisse, die er mit Illustrationen versah. Ein Heuwagen mit Blitz darüber und drohenden Regenwolken,und die Kirschernte, wie er mit den Kusinen im Kirschbaum sitzt, und das Tantchen guckt aus dem Fenster. Daß man die Kirschen lieber einmachen soll, statt alles abzurupfen und in den Mund zu stecken, hatte sie gesagt.
    Daß das Gut nur ein Vorwerk zum alten Georgenhof gewesen sei, schrieb er, dessen Trümmer noch im Wald liegen, 1807 von den Franzosen angezündet und danach nie wieder aufgebaut. Er ströperte öfter mal darin herum, obwohl er nicht in den Ruinen spielen durfte, es waren dort Kreuzottern gesehen worden, und womöglich stürzt der ganze Kram irgendwann mal ein? Aber er tat es eben doch gelegentlich. Seine Kusinen hatte er schon hineingelockt und dann mit hohler Geisterstimme sehr erschreckt.
    Die Hitlerjugend hatte sich in den noch erhaltenen Gewölben mal bei Nacht getroffen, mit blakenden Fackeln in der Faust hatten sie trutzige Lieder gesungen.
     
    Ein junges Volk steht auf,
    zum Sturm bereit!
    Reißt die Fahnen höher, Kameraden!
     
    Es hatte noch ein Nachspiel gegeben. Die Polizei hatte mit der Hitlerjugend gesprochen, daß das so nicht geht, wie leicht kann so ein Gewölbe einstürzen!
     
    Unter den Aufsatz, als er dann endlich fertig war, schrieb Dr. Wagner mit roter Tinte gut! , und das Tantchen band die Seiten mit einem blauen Band zusammen: Das war ja schon fast ein Buch! Man würde es dem Vater zum Geburtstag schenken. Es lag auf seinem Tisch, und Peter stellte sich vor, wie sehr sich sein Vater freuen würde über das Buch. Im Mai hatte der Vater

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