Alles Ware - Glanz und Elend der Kommerzkultur
Aber dies vorausgesetzt, ist der Kapitalismus natürlich auch eine mächtige Kraft der Heterogenität. Konformismus ist nichts,
was der Kapitalismus, könnte er Wünsche äußern, will. Aus dem Lebensstil, der von der Norm abweicht, macht er immer wieder
ein neues Marktsegment. Ununterscheidbarkeit ist im Kapitalismus ein Konsumhemmnis, Unterscheidbarkeit ist sein Lebenselixier.
Eigentlich erstaunlich, dass das lange übersehen wurde, schließlich ergibt sich dies gewissermaßen schon aus dem Basiselement
des kapitalistischen Wirtschaftens, aus der Ware: Eine Ware, die sich von anderen nicht unterscheidet, wird schwer an den
Mann oder die Frau zu bringen sein, ihr Erfolg lebt davon, dass glaubhaft gemacht werden kann, diese spezielle Ware sei etwas
ganz Besonderes, mit allen anderen ähnlichen Waren absolut unvergleichlich.
Diese Ambivalenz von Homogenisierung und Heterogenität ist nicht nur in der Kulturtheorie mittlerweile ein bekannter Sachverhalt,
die Marketingspezialisten selbst wissen darüber bestens Bescheid. Natürlich hat die Etablierung globaler Power-Brands einen
»mächtigen Homogenisierungseffekt«, schreibt Wally Olins, der viele führende Konzerne berät. »Konsequent zu Ende gedacht,
würde jeder gleich aussehen, fühlen und agieren. Aber im |53| realen Leben möchten die Menschen nicht unbedingt das, was ihr Nachbar hat.« Deshalb ist »Heterogenität für die globale Brandingentwicklung
genauso bedeutend wie Homogenität«. Es gäbe, formuliert Olins weiter, sogar einen paradoxen Widerspruch zwischen der Notwendigkeit
der Markenfirmen, ihre Produkte »mit einer einzigen, klaren Aussage auszustatten«, und dem Bedürfnis des Konsumenten, »einzelne
Waren herauszugreifen und mit anderen zu mischen – to pick’n mix –, um eine Identität zu komponieren, die zu ihm oder ihr
passt.« 51
Der Kapitalismus fördert darum im Prinzip unendlich viele unterschiedliche Stilgemeinschaften, die wie Glaubensgemeinschaften
funktionieren – um sich davon eine Vorstellung zu machen, denkt man am besten an verschiedene Fußballmannschaften, die alle
ihre eigenen Trikots und Fanartikel haben. Das kulturkritische linke Vorurteil, dass der Kapitalismus Konformismus befördere,
zog dennoch so manchen paradoxen Kurzschluss nach sich. Etwa den Glauben, mit der Etablierung einer alternativen Gegenkultur
würde den Homogenisierungstendenzen des Kapitalismus Widerstand geleistet – während in der Realität die Gegenkulturen von
Hippies bis Punk dem Konsumkapitalismus nur neue Energien zuführten. Deshalb ist, wie die kanadischen Autoren Joseph Heath
und Andrew Potter schrieben, die gegenkulturelle Politik »in den letzten vierzig Jahren eine der wichtigsten Triebkräfte des
Konsumkapitalismus gewesen« 52 . Schließlich seien es die Nonkonformisten, nicht die Konformisten, »die an der Konsumschraube drehen«, denn: »Wenn die Konsumenten
bloß Konformisten wären, dann würden sie sich allesamt das Gleiche kaufen und damit glücklich und zufrieden sein.« 53 Es ist dieses Paradoxon, das den Philosophen Peter Sloterdijk zu dem Aperçu veranlasste: »Alle Wege der ’68er führen in den
Supermarkt.«
|54| All das heißt natürlich nicht, dass es an der konsumistischen Mentalität nichts zu kritisieren gäbe. Sie neigt dazu, unmöglichen
Versprechungen Glauben zu schenken. Sie ermutigt eine gewisse Rücksichtslosigkeit, Leben über unsere Verhältnisse, ist Spielernaturen
günstig. Der Imperativ »Kaufe und Wähle« insinuiert, dass alles zu haben ist – und dass, was immer man gerade haben mag, in
jedem Augenblick auch etwas Besseres zu haben ist. Der längeren Konzentration auf eine Sache – oder auch einen Menschen –
ist diese konsumistische Mentalität ungünstig. Der Konsumbürger ist ständig auf der Suche nach neuen Erlebnissen und Reizen,
er hat stets Panik vor der Langeweile und eine tiefe Angst, etwas zu versäumen. Erlebnisse, einmal erlebt, fallen in sich
zusammen und verlangen nach neuer Aktivierung. Die dauernde Frage des innerlich monologisierenden Konsumbürgers ist: »Was
mache ich jetzt?« 54 Kaum steckt er in einer längeren Beziehung, schon fragt er sich, so Werner Schulze, »viel leicht hätte mir ein anderer Mensch mehr zu bieten, als der, auf den ich mich eingelassen habe? Gewählt zu haben bedeutet immer
auch, andere Möglichkeiten ausgeschlagen zu haben.«
Der Horizont des Shoppings ist die prinzipielle Unbegrenztheit des
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