Alles Ware - Glanz und Elend der Kommerzkultur
frühen zwanzigsten Jahrhunderts, nicht bloß eine Ansammlung von
Geschäften in einem Komplex, der außerhalb der großen Städte oder inmitten der Suburbs hochgezogen wird, also nicht nur eine
effektive und kostengünstige Konzentration von Möglichkeiten zum Erwerb von Dingen. Sie ist auch nicht einfach ein Kind von
Air-Conditioning, Rolltreppe und Gipskartonwand. Wenngleich man auch nicht einfach vergessen soll: Die Entwicklung raffinierter
technischer Möglichkeiten, einen großen Raum verschieden großer Räume ohne Fenster zu schaffen, durch den man sich trotz weiter
Wege bequem bewegen kann und in dem man nicht erstickt, war eine entscheidende Voraussetzung für das Entstehen von Shopping
Malls. Nur erschöpft sich die Shopping Mall keineswegs in der Technik, die sie ermöglichte. Sie ist all das auch, aber doch
auch mehr: Sie ist ein eigener Erlebnisraum mit Ortseffekten über den eigentlichen Kreis der Mall hinaus. Wenn der Imperativ
des Konsumkapitalismus lautet: »Führe uns in Versuchung!«, so sind Koolhaas’ Flagship Stores seine Kathedralen, aber die Shopping
Malls sind die Kirchen, die in jeder mittelgroßen Stadt zu finden sind – und die erst den Glauben in alle Ecken der Welt verbreiten.
Heute hat sich die Urform der Mall übrigens längst überlebt. Das letzte »Big Thing« ist das »Urban Entertainment Center« (UEC):
Shopping Mall, Treffpunkt, Multiplex, Ort der Erlebnisgastronomie in einem. Riesige Klumpen |65| von Läden, Büros, Restaurants, Kinos, die sich zu einer »Mini-Stadt« formen. Wucherungen am Rande der Städte, aber auch inmitten
derselben, die sich ähnlich gut in die Landschaft fügen wie ein Karzinom in einen Organismus. Öffentliche Orte, die doch nur
Als-ob-Städte sind, Kulissen des Sozialen, in denen man zwar aktiv sein kann, dies aber doch nur auf eigentümlich passive
Weise.
Erlebnisse zu kaufen.
Mall of America, Innenansicht
»Ich habe mich«, sagt Jon Adams Jerde, »des architektonischen Drecks – der Warenhäuser, Waschcenter, Tierkliniken und Tankstellen
– angenommen, um wieder Plätze für Gemeinschaften zu kreieren.« 68 Jerde ist, wenn man so will, der bedeutendste Architekt der Welt, auch wenn ihn kaum jemand kennt, auch jene nicht, denen
ansonsten die |66| Namen der Star-Architekten durchaus geläufig sind – Gehry, Hadid, Eisenman, und wie sie alle heißen. »Von so viel Bedeutung
und Möglichkeiten träumen andere Architekten«, sagt denn auch Rem Koolhaas. Jerdes Bauten werden jährlich von mehr als 500
Millionen Menschen besucht, zu seinen Projekten gehören die Mall of Egypt in Kairo, das West End City Center in Budapest,
der City Walk in Los Angeles und die Mall of America in Bloomington, Minnesota, Amerikas größtes überdachtes Einkaufszentrum.
Letzteres »ist ein Ort, an dem man außer Geborenwerden und Sterben problemlos ein ganzes Leben verbringen kann«, urteilte
das deutsche Wirtschaftsmagazin
brand eins
. Die Mall macht paradigmatisch, dass sie soziales Leben rund um den Imperativ »kaufen« organisiert. Die Mall of America etwa
hat »ihr eigenes Ausbildungszentrum, ein Joint Venture mit der Schulbehörde Bloomingtons. Die Mall bietet alle Levels vom
Kindergarten bis zur Universität an und hat sogar ihr eigenes MBA-Programm.« 69
Das ist, als würde man in Wien seinen Doktortitel in der Shopping City Süd erwerben oder in Berlin in den Friedrichstadt-Quartieren.
In der Mall kann man »normales« soziales Leben simulieren rund um jene Warenförmigkeit herum, welcher der Ort erst seine Existenz
verdankt. Leute wie Jerde richten ihr Augenmerk auf die Zwischenräume: die Orte zwischen den Läden, die einstmals leeren Flächen.
Diese Brachwüsten in den klassischen Einkaufszentren haben sie zu Orten gemacht, an denen man verweilen kann, mit Cafés, Kino,
Erlebnisgastronomie. So haben die Shopping Malls, zum Urban Entertainment Center mutiert, Eigenschaften angenommen, die ursprünglich
zu den klassischen Charakteristika der Innenstädte gehörten: scheinbar brodelnde, scheinbar lebendige, scheinbar öffentliche
Orte. Das urbane Erlebnis ist eingebettet in eine Brand-Politik, |67| die Politik einer Warenmarke. Die Erlebnisse, die zur Konsumtion angeboten werden, müssen mit dem Image der vertretenen Brands
vereinbar sein und mit dem Image der Mall als Brand Zone. Die Mall ist also ein pseudo-öffentlicher Raum oder ein gigantischer
Privatraum. Sie ist ein Privatraum, weil sie nur eine
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