Alles Ware - Glanz und Elend der Kommerzkultur
Marseille« ebenso wie der Bartwuchs
der |178| Frömmler und die Dschellabah, das bodenlange Männerkleid. Der Protestislam setzt dem globalisierten westlichen Lifestyle einen
globalen muslimischen Lifestyle entgegen, der lokale Traditionen, regionale Stile, die Taliban-Doktrin, eine exaltierte Koranauslegung,
westliche Konsumkritik, eine Prise Leninismus (in Qutbs »Meilensteine« gibt es mehr als nur Anklänge von Lenins Idee der revolutionären
»Avantgarde«), New-Age-Bruchstücke (»Finde dich selbst!«) und gut abgehangene antiimperialistische Parolen zu einer wilden
Mischung verrührt. Kurzum: Der Eklektizismus und die Hybridität der Konsumkultur wird im Protestislam noch einmal verdoppelt.
Nicht weniger kurios: Selbst der Dschihadismus folgt noch der medialen Logik der globalen Kultur. Was wäre der Selbstmordattentäter
ohne das moderne Homevideo, auf dem er seine Tat begründet, bevor er sie ausführt, was wäre seine Tat ohne die Fernsehbilder
von zerfetzten Leichen, schreienden Verwundeten oder gar einstürzenden Wolkenkratzern? Nicht von ungefähr hat eine amerikanische
Forschergruppe die »Webmaster des revolutionären Islam« auch die »wahren Gläubigen des Spektakels« genannt. Das Youtube-Motto
passt zu ihnen, maßgeschneidert wie ein Sprengstoffgürtel: »Broadcast Yourself«.
Ethnischer und religiöser Fundamentalismus ist eine Gegenreaktion auf die globale Konsumkultur, ein partikularer Abwehrversuch.
Welchen Grad an Rationalität oder Irrationalität wir ihm zubilligen, ist völlig unerheblich, und wenn er eine Reaktion auf
die global hegemoniale Kultur ist, folgt daraus logischerweise, dass er mindestens ebenso sehr ein Produkt der westlichen
Konsumkultur ist wie der islamischen Gesellschaften selbst. Mag er ein Monster sein, dann ist er das Monster, das wir selbst
gezüchtet haben. Gewiss wäre es falsch, zu insinuieren, der islamistische Furor, der Todestrip der Selbstmordattentäter |179| und der Kopfabschneider im Irak etwa, ließe sich allein daraus erklären. Die üblicherweise angebotenen Erklärungen, seien
es die Modernisierungshemmnisse in der islamischen (und hier vor allem der arabischen) Welt, seien es der Neo-Imperialismus
der USA oder geo- und wirtschaftspolitische Interessen, sie alle sind ebenso wichtige Elemente, ohne die die jüngsten globalen
Krisen schwer erklärt werden können. Ich möchte hier gar nicht andere monokausale Erklärungen durch eine neue monokausale
Deutung ersetzen, sondern nur darauf hinweisen, dass das gesamte Ausmaß an Gereiztheit und Entfremdung, das die globalen Konflikte
heute auszeichnet, nicht zu verstehen ist, wenn wir unsere Sinne nicht für die Auswirkungen der globalen Hegemonie des westlichen
Konsummodells schärfen.
»Die kulturelle Durchdringung der Welt durch ein konsumorientiertes, alles assimilierendes Zentrum hat die verschiedenen Kulturen
der Dritten Welt zerstört«, schrieb Pier Paolo Pasolini schon vor über dreißig Jahren in seinen berühmten »Freibeuterschriften«.
»Das Kulturmodell, das … angeboten wird, ist nur ein einziges. Die Angleichung an dieses Modell erfolgt vor allem im Gelebten,
in der Existenzweise.« 164 Kaum jemand hat so früh und in so dunklen Wendungen die globale Verbreitung des westlichen Konsummodells beklagt wie der
linke italienische Regisseur und Dichter Pasolini. »Kein faschistischer Zentralismus hat das geschafft, was der Zentralismus
der Konsumgesellschaft geschafft hat« 165 , formulierte Pasolini gar. Für ihn stellte das moderne System der »Massenkultur« ein »Phänomen von anthropologischer ›Mutation‹« 166 dar. Auf globaler Ebene werde ein Modell durchgesetzt, das sich seine eigenen Konsumbürger heranzüchtet, sodass selbst die
kulturellen Formen, die Sprachen, die Gesten, die Existenzweisen verlorengehen und in Vergessenheit |180| geraten, mit denen gegen diese Einheitskultur noch operiert werden könnte. Schon in der körperlich-mimischen Sprache der Leute
stünde, so Pasolini, förmlich eingeschrieben: »Die herrschende Macht hat beschlossen, dass wir alle gleich sein sollen.«
Man muss nicht alles an Pasolinis dunkelgrauer Rabulistik unterschreiben, aber eines lässt sich dreißig Jahre später kaum
mehr leugnen: Die Etablierung der westlichen Konsumzivilisation zur homogen-hegemonialen Kultur auf diesem Globus ist ohne
Gegenreaktionen offenbar nicht zu haben. Oder, um das in der Sprache der Kommerzkultur zu
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