Alles was ich sage ist wahr
und ich die Schule geschmissen habe.
* * *
»Ich wähle auf alle Fälle Naturwissenschaft«, hatte Fanny im Frühjahr verkündet, als die Antragsformulare ausgeteilt wurden.
»Aha?«, sagte ich und sah mir die Blätter an, weil mir nichts Besseres einfiel.
»Du etwa nicht?«
»Ich weiß nicht.«
»Was weißt du nicht?«
»Ich weiß es eben nicht«, sagte ich. »Hab mir noch keinen Kopf darüber gemacht.«
Fanny hatte mich angesehen, als wäre ich ein kleines bisschen zurückgeblieben.
»Du hast dir noch keinen Kopf darüber gemacht, welche Fachrichtung du wählen willst?«
Ich zog die Schultern hoch.
»Du nimmst natürlich auch Naturwissenschaft«, sagte Fanny autoritär. »Das ist die breiteste Ausbildung. Danach kannst du werden, was du willst, und musst nicht das Gefühl haben, dich gegen etwas entschieden zu haben, weil du am Anfang noch nicht genau wusstest, was du wolltest.«
Ich stand der Idee bereits zu dem Zeitpunkt skeptisch gegenüber, aber andererseits hatte ich auch keine schlagenden Gegenargumente parat.
»Ganz davon abgesehen ist das die einzige Chance, dass wir in die gleiche Klasse kommen«, fügte Fanny hinzu, als sie meinen zögerlichen Gesichtsausdruck sah. »Und wie du weißt, kommst du in der Schule nicht ohne mich zurecht.«
Im Nachhinein wundere ich mich, dass ich nicht vehement widersprochen habe. Aber hinterher ist man leicht schlauer.
Ich habe nichts gesagt und das Formular ausgefüllt, um wenigstens dieses Problem aus der Welt zu schaffen. Und Fanny hat sich bei mir untergehakt und gesagt, ich wäre mit Abstand ihre klügste Freundin. Wahrscheinlich war das nicht gerade clever, aber was hätte ich machen sollen?
* * *
Auf dem Gymnasium beginnt der Ernst des Lebens, sagen alle. Was natürlich nicht heißt, dass die Noten vorher nicht wichtig wären. Oh nein, die Zeit davor ist auch sehr, sehr wichtig, aber verglichen mit dem Gymnasium ein echter Fliegenschiss. Schluss mit lustig, jetzt kommt es drauf an. Man soll fürs Leben lernen. Seine Zukunft vorbereiten. Seinen Weg wählen und mit Bedacht gehen, immer an die Noten denken, sich kämmen, nach der Decke strecken und Verantwortung übernehmen.
Fanny fährt voll auf dieses Gerede ab. Sobald jemand betont, wie wichtig es ist, seine Ausbildung ernst zu nehmen, steht ihr in Großbuchstaben ENDLICH! auf die Stirn geschrieben, und am liebsten würde sie auf der Stelle nach Hause laufen, um ihre Stifte nach Farben zu sortieren und ihre Schulbücher in hübsches Papier einzuschlagen.
Und ich – ich liebe Fanny.
Aber vielleicht reicht das ja nicht?
* * *
»Also«, sagt Sara und schüttelt meinen Eltern die Hand. »Schön, dass Sie alle drei kommen konnten. Kaffee?«
Der Lippenstift passt irgendwie gar nicht zu ihrem Gesicht, sie sieht total verkleidet aus.
Meine Eltern wollen gerne einen Kaffee, ohne Milch und Zucker, ich will nichts. Wir setzen uns auf die drei Stühle vor Saras Schreibtisch und sie blättert in einem Papierstapel.
»Also, Alicia«, sagt sie. »Du hast es dir nicht noch mal anders überlegt?«
Ich schüttele den Kopf.
Sara wendet sich an Papa.
»Wie stehen Sie dazu, dass Ihre Tochter das Gymnasium abgebrochen hat?«
Papa seufzt verbissen.
»Wir sind nicht gerade glücklich darüber«, sagt er. »Aber wir haben beschlossen, ihr die Chance zu geben, es auszuprobieren. Auf uns wirkt sie sehr entschieden.«
Sara nickt und schreibt etwas in ihre Papiere.
»Dann sollten wir gemeinsam einen Plan erstellen, was Alicia stattdessen macht«, sagt sie und nimmt Anlauf. »Die Gemeinde trägt die Verantwortung für alle Jugendli…«
»Ich habe mir einen Job gesucht«, sage ich schnell. »In einem Café.«
Das bringt sie zum Schweigen.
»Morgen fange ich an«, rede ich weiter.
Mama nickt.
»Das ist wahr«, sagt sie zu Sara, als könnte sie es selbst kaum glauben.
Ich verdrehe die Augen.
Natürlich ist das wahr.
Alles, was ich sage, ist wahr.
»Die Gemeinde kann sich also entspannen«, sage ich zufrieden. »Schreiben Sie das in Ihre Unterlagen. Mit schwarzer Tinte.«
* * *
Als wir Saras Büro verlassen haben, holt Papa seine ernsteste Stimme hervor und ermahnt mich, diese Chance nun aber auch wirklich zu nutzen und zu beweisen, dass es kein Fehler war, mir ihr Vertrauen zu schenken. Und ich soll wissen, dass sie es eigentlich für gar keine gute Idee halten, das Gymnasium zu schmeißen, aber nun ist es einmal so und da muss man eben das Beste aus der Situation machen. Jedenfalls verlassen sie sich auf
Weitere Kostenlose Bücher