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Alles - worum es geht (German Edition)

Alles - worum es geht (German Edition)

Titel: Alles - worum es geht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janne Teller
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das geht prima, und das Spiel kennen wir alle drei. Die ersten paar Runden verliere ich, dann gewinne ich eine, gleich darauf verliere ich wieder. Derweil heben und senken sich die Stimmen von der Terrasse, und genau als die Stimmen lauter werden, fliegt mir der Stein zu hoch oder zu schief und ich kann ihn nicht fangen. Wenn mein Vater richtig laut wird, mache ich mich ein bisschen kleiner, aber die Jungen scheinen nichts dabei zu finden. Vermutlich sind sie das von Touristen gewöhnt, denke ich. Dann ruft mein Vater noch lauter, und dieses Mal klingt seine Stimme ganz rau und eindringlich, was nur heißen kann, dass der Teppich schon bald mit uns nach Hause reist.
    »Fünfhundertfünfzehn. Mein letztes Wort!«
    Einen Moment lang ist von der Terrasse kein Laut zu hören. So als hielten nicht nur mein Vater und der Händler die Luft an, sondern auch alle anderen Touristen. Dann hört man die Stimme des Händlers.
    »Okay, fünfhundertfünfzehn.«
    Eigentlich bin ich dran mit Spielen, aber ich stehe auf und stelle mich auf Zehenspitzen auf die Steineinfassung und sehe, wie mein Vater und der Händler sich die Hände reichen. Mein Vater klopft dem Händler freundschaftlich auf die Schulter, und der Gehilfe des Händlers kommt mit frischem Tee und Limonade und schenkt ringsum ein, während der Händler einen Rechnungsblock holt und eine Karte, eine Art Garantieurkunde, die er uns schon vorher gezeigt hatte zum Beweis dafür, dass er nur gute Ware verkauft und seine Teppiche alle echt sind.
    Mein Vater trinkt einen Schluck Limonade, dann lacht er laut. Sein Mund ist noch immer so eckig, auf diese Weise, die ich nicht mag.
    »So, das war’s«, sagt er und ruft nach mir. »Inga, komm, wir müssen los.«
    »Aber die müssen doch erst noch den Teppich zusammenpacken«, rufe ich über die Terrassenmauer zurück.
    »Der kommt nicht mit.«
    »Aber…«
    »Das war nur Spaß. Wollte mal sehen, ob ich …« Mein Vater dreht sich zu dem Händler um und sagt auf Englisch: »Das war bloß ein Spiel. Ich hab gewonnen. Ich hab Sie ausgetrickst.«
    Ich sehe den Händler an, der unter seiner wettergegerbten Haut ganz grau geworden ist, und schlagartig verschwindet die Freundlichkeit aus seinen Schultern, die auf einmal rund und seltsam hängend aussehen.
    »Aber Sie haben mir Hand gegeben …«, sagt er jetzt.
    »I got you!«, wiederholt mein Vater und lacht heiser und noch lauter.
    Die beiden Brüder sind jetzt auch aufgestanden. Sie stehen rechts und links von mir, und ich merke, dass auch in ihren Schultern irgendwas passiert, auch wenn ich von außen nichts sehen kann.
    Der Händler sagt eine Menge Dinge auf Türkisch, die sich gar nicht nett anhören, auch wenn er dabei weiter mit den Lippen höflich lächelt, aber mein Vater lacht immer noch.
    »Habt ihr denn keinen Humor hier?«
    Es wird ganz still. So still, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte, hier, wo ich schon vorher dachte, stiller könne es wirklich nicht mehr sein. Der Händler ist still, die Touristen sind still, und auch die Jungen sind still. Die Luft steht still, die Hunde liegen still, selbst die Insekten stehen still in der Luft, und die Vögel haben aufgehört zu zwitschern. Mir fällt auf, dass diese Stille einen seltsamen Klang hat, eine Art Brummen, so als würden alle durcheinandermurmeln, aber ohne Ton. Ich sehe, wie einige der anderen Touristen die Augenbrauen hochziehen oder sich auf spezielle Weise ansehen, und die braun gebrannte dünne Frau sieht so aus, als fände sie auf einmal gar nicht mehr alles so reizend.
    Ich drehe mich um, gehe langsam in die Knie und gleite mit dem Rücken an der Terrassenwand entlang, auch wenn ich weiß, dass mein Kleid an dem rauen Mauerstein hängen bleiben kann und vielleicht reißt. Aber ich hätte schon Lust, es selbst zu zerreißen, obwohl es mein Lieblingskleid ist, und ich fange fast damit an, als ich auf einmal merke, dass meine Hand noch immer einen Stein hält, den ich hatte hochwerfen sollen, und im nächsten Augenblick knallt dieser Stein mit solcher Kraft gegen meine Stirn, dass ich seitlich von der Steineinfassung kippe.
    »Nein!«, ruft der jüngere der Brüder und zeigt auf mich.
    Ich selbst schimpfe halblaut, kann aber nur noch denken, dass mein Kopf wahnsinnig wehtut. Ich spüre, wie meine Stirn aufplatzt und etwas Warmes, wovon ich weiß, dass es Blut ist, über eine meiner Augenbrauen seinen Weg hinunterfindet, bis ich mit dem rechten Auge nichts mehr sehen kann. Und dann ist es gar nicht mehr

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