Alles - worum es geht (German Edition)
still, weder mit noch ohne Brummton. Auf einmal zwitschern die Vögel wieder, die Insekten summen laut, und die Touristen kommen angelaufen und rufen alle durcheinander.
Ein Mann zeigt auf den älteren der Jungen.
»Was will man von denen auch anderes erwarten!«, sagt er.
»Die sollten sich was schämen!«, sagt die braun gebrannte dünne Frau. »So ein reizendes Mädchen …«
»Verprügeln sollte man diese Kerle«, sagt ihr Mann.
»Also hier waren wir wirklich zum letzten Mal!«, sagt einer, und ohne dass ich verstehen kann, was die anderen sagen, ist klar, dass sich alle einig sind.
Mein Vater brüllt etwas, aber für mich sind das nur Laute außerhalb meines Gehörs, so wie das Bild, in dem der Händler den älteren der Brüder packt und schüttelt und ihn auf Türkisch anschreit, gleichsam außerhalb meiner Augen bleibt. Alles ist irgendwie weit, weit weg, und ich sehe nichts und nehme nichts wahr außer dem Schmerz in meiner Stirn, auch wenn ich mitbekomme, wie der jüngere Bruder redet und auf den Händler einredet, der auf einmal verwirrt aussieht, von dem anderen Jungen ablässt und zu mir herübersieht.
Die braun gebrannte dünne Frau hat inzwischen ein paar feuchte Tücher aus ihrer Tasche geholt, um die Wunde an meiner Stirn zu reinigen, und mein Vater kommt und drückt mich an sich, und einen Moment lang geht es mir direkt gut. Alles ist wieder in Ordnung, alle haben vergessen, dass mein Vater den Teppich gekauft und doch nicht gekauft hat. Solche Jungen sind immer an allem schuld. Und ich habe es richtig gut mit Papas Armen und Papas Stimme um mich herum, seine Hände streichen mir übers Haar, streichen es glatt, und ich vergesse ganz zu weinen und auch, dass es brennt, als die Frau meine Wunde reinigt.
Irgendwie stehen wir dann wieder auf dem Marktplatz, unser Reiseleiter kommt angelaufen, er steht hinter meinem Vater und sagt: »Hier kommen wir nicht mehr her!«
Die Stirn tut mir weh, aber die Wunde blutet nicht mehr, ich habe ein Pflaster bekommen und fühle mich auch nicht mehr so weit weg. Es ist immer noch schön, dass mein Vater neben mir steht und seine Hand auf meinem Kopf liegt, aber mitten in dem Schönen bekomme ich plötzlich, ohne zu wissen, wo das auf einmal herkommt, immer mehr Lust, mein Kleid zu zerreißen oder irgendwo gegenzutreten. Und als der Händler kommt, immer noch mit diesen runden Schultern, und mir Limonade bringt, da geht mein Mund auf, ohne dass ich es will:
»Die waren das nicht. Ich war’s. Ich bin bloß gefallen.«
Wieder ist es still. Aber dieses Mal ist es eine andere Stille als zuvor, auch der Brummton ist nicht da. Diese Stille klingt erst nach Erröten und wird dann langsam zu einer schon übergroßen Freundlichkeit von der Art, zu der lärmende Stimmen und weit offene Arme gehören und bei der niemand dem anderen vielsagende Blicke zuwirft. Doch schon im nächsten Augenblick ist die Stimmung wieder eine andere, die Frauen hören auf zu schimpfen, und die Männer lösen ihre geballten Fäuste. Eine der Frauen, die sich besonders aufgeregt hatte, kauft dem Händler ein Armband ab, und die braun gebrannte Frau kauft ein kleines Schmuckkästchen. Dann sagt der Reiseleiter, es sei höchste Zeit zur Abfahrt, wir seien schon zu spät, und alle machen sich auf den Rückweg zum Bus.
Es pocht hinter meiner Stirn, jetzt tut es richtig weh, aber ich will mich nicht beklagen, denn ich weiß, ich habe wieder einmal irgendwas verkehrt gemacht, ohne dass ich selbst verstehe, wie das kam. Also gehe ich einfach neben meinem Vater her, der jetzt nicht mehr die Hand auf meinem Kopf liegen hat. Den blauen und goldenen Teppich scheinen alle vergessen zu haben. Alle reden nur noch von mir und davon, wie ich gefallen bin und mich blutig geschlagen habe, und davon, wie lange wohl die Rückfahrt nach Bodrum dauern wird, ob wir die kürzere oder die längere Strecke nehmen. Ich würde meinen Vater gern fragen, warum wir den Teppich denn nun doch nicht mitnehmen, aber meine Zunge ist wieder wie eingetrocknet, und ich kann es nicht.
Wir stehen schon vor dem Bus, um einzusteigen, mein Vater geht gerade die Stufen hoch, da spüre ich eine leichte Berührung an der Schulter. Der jüngere der beiden Brüder sagt etwas auf Türkisch, drückt mir ein Päckchen in die Hand und läuft gleich wieder zurück zum Händler, der im Eingang seines Geschäfts steht und kurz einen Arm hebt. Durch das Papier hindurch ertaste ich Muschelschalen, und mittendrin einen glatten runden Stein mit
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